: Faschismus als monströse Wunschmaschine
Der britische Historiker Michael Burleigh wollte den Nationalsozialismus als politische Religion beschreiben. Der Versuch ist gescheitert – und auch ansonsten findet sich auf den über 1.000 Seiten der „Gesamtdarstellung“ nicht viel mehr als altbekannte, konventionelle Parteiengeschichte
von MICHAEL WILDT
Als anscheinend unvermeidliches Gegenstück zu Short Messages und knappen E-Mails hat sich unter Historikern die voluminöse Gesamtdarstellung durchgesetzt. Mag sein, dass das scheidende 20. Jahrhundert die Geschichtswissenschaftler noch einmal beflügelt, dem sich verflüchtigenden Zeitalter ihren letztgültigen Stempel aufzudrücken. Tausend Seiten und mehr sind jedenfalls keine Seltenheit, und auch wenn die Frage ungehörig klingen mag, soll sie doch gleich zu Beginn gestellt werden: Wer, bitte, soll das alles lesen?
Zugegeben, diese Frage ist nicht ohne Hinterlist, denn bei Robert Musil oder Thomas Pynchon, erst recht bei Stephen King oder Joanne K. Rowling käme niemand auf einen solchen Gedanken. Aber da Historiker in der Regel keine Schriftsteller sind, darf man durchaus laut fragen, ob es denn nicht auch etwas weniger sein darf. Die Messlatte ist also hoch genug gelegt, wenn nun der britische Historiker Michael Burleigh mit einer knapp tausendseitigen „Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus“ (Untertitel) an den Start geht. Der Originaltitel „The Third Reich. A New History“ kommt bescheidener daher – aber hierzulande muss es offenbar immer die ganze Geschichte sein.
Burleigh selbst ist ein viel versprechender Autor. Mit seinem 1991 erschienem „The Racial State. Germany 1933 – 1945“, mit Studien über die Euthanasie (1994) und die Ostforschung im Nationalsozialismus (1988) hat er bewiesen, dass er interessante, knappe Bücher mit überzeugender Fragestellung und erhellenden Einsichten schreiben kann. Auch diesmal steigt er schwungvoll ein, setzt sich forsch von den orthodoxen Historikern ab, zeigt sich desinteressiert an den Motiven der Täter und verweist statt dessen auf Shakespeare, die Bibel und Dostojewski, in denen ebenso viele Erkenntnisse steckten wie in den Werken jedes zeitgenössischen Historikers.
Sträflich unberücksichtigt findet der Autor dagegen die Theorien zur politischen Religion, vor allem vertreten durch Eric Voegelin, dessen Analysen der politischen Rituale, Liturgien, Glaubenssysteme eines religionsverlorenen 20. Jahrhunderts Burleigh zufolge bislang kaum ausgeschöpft worden sind. Das stimmt so pauschal sicher nicht – aber tatsächlich hat sich bisher niemand daran gewagt, die Geschichte des Nationalsozialismus als Geschichte einer politischen Religion zu schreiben. Voller Hoffnung wendet man sich also dem ersten Kapitel über die Weimarer Republik zu und reibt sich verwundert die Augen. Keine Frage, alle wichtigen Autoren sind berücksichtigt, nichts wurde vergessen oder hinzugefügt – aber es findet sich auch nichts Neues. Was Burleigh auf 140 Seiten bietet, ist die altbekannte, konventionelle Parteiengeschichte über das Versagen der Demokraten, die Schwäche der Republik und die skrupellose Machtpolitik der Nazis. Selbst Joachim Fest hat in seiner Hitler-Biografie der Inszenierung der Rede und des öffentlichen Auftritts Hitlers größere Aufmerksamkeit geschenkt.
Burleighs gekonnte Schilderung der Zerstörung des Rechts 1933/34 wiederum verdankt den totalitarismustheoretischen Arbeiten von Hannah Arendt, Ernst Fraenkel und anderen Emigranten viel. Das bewusst provozierende Bekenntnis des Autors zur Totalitarismustheorie in der Einleitung verwandelt sich in diesem Kapitel in einen sensiblen intellektuellen Seismograph für den unabdingbaren Wert des Rechts und die gesellschaftliche Erosion, die mit seiner Zerstörung einhergeht. Hier wird für einen kurzen Moment sichtbar, was Burleigh vermag und was von ihm erwartet werden kann.
In den Kapiteln über die „Volksgemeinschaft“ und die rassistische Utopie der Züchtung der Besten gelingt es Burleigh, den Glauben an den Nationalsozialismus kenntlich zu machen. Die Hoffnung auf Ordnung und Sicherheit, das Vertrauen, dass es einer, der „Führer“, schon richten wird, die anfängliche Erfahrung sozialer Stabilität und dann die aufspringende Gier nach Reichtum und Allmacht. Der Arbeiter fühlte sich endlich geehrt, der Jurist nicht mehr an Paragraphen gebunden, Biologen, Ärzte, Naturwissenschaftler durften die Grenzen der Ethik hinter sich lassen und frei, allein ihren Fortschrittsfantasien verpflichtet experimentieren, wie sie es sich nicht hätten träumen lassen. Der Nationalsozialismus als monströse Wunschmaschine, als Versprechen auf eine reine, schöne, saubere Welt ohne Kranke, „Artfremde“ und „Asoziale“.
Aber der selbst gesetzte Zwang zur Gesamtdarstellung treibt das Buch und seinen Autor unerbittlich weiter. Der europäische Eroberungskrieg verleitet Burleigh, Besatzung und Kollaboration ein eigenes Kapitel zu widmen, das zu kurz ist, um dem komplizierten, in Ost und West ganz unterschiedlichen Phänomen von Mittäterschaft, Hinhaltetaktik, nationaler Gleichgültigkeit, Antisemitismus und Widerstand gerecht zu werden. Gleichzeitig ist der Abschnitt aber zu lang, um das Problem einigermaßen präzise zu umreißen.
Natürlich darf auch der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion nicht fehlen. Kommissarbefehl und geplanter Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen werden erneut geschildert. Aber spätestens wenn mit den Memoiren des Generalfeldmarschalls von Manstein die Schlammlegende vor Moskau 1941 wieder aufgewärmt wird, schleichen sich Zweifel an der Zuverlässigkeit der Darstellung ein. Dass Militärgeschichte modern und zivil geschrieben werden kann, selbst (oder gerade) von Nicht-Militärhistorikern, hat Ian Kershaw im zweiten Band seiner Hitler-Biografie bewiesen. Doch Burleighs Metier ist das offenkundig nicht.
Auch die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden entbehrt entweder des versprochenen neuen Zugriffs oder fällt hinter dem zurück, was in den letzten Jahren veröffentlicht worden ist. Die Zeit der Judenverfolgung bis zum Kriegsbeginn hat bislang unübertroffen Saul Friedländer dargestellt, und es ist keineswegs ehrenrührig, sondern nur zu verständlich, wenn sich Burleigh auf ihn bezieht. Deswegen allerdings ist die Frage ebenso unvermeidlich, warum man nicht lieber das Original lesen sollte.
Die Darstellung des Holocaust wiederum gründet sehr auf Götz Alys ungemein anregender Studie zur „Endlösung“. Auch hier jedoch ist das Original präziser und kundiger. Burleighs Überzeichnung der Rolle Eichmanns, seine Überbewertung von Dokumenten wie der Ermächtigung Heydrichs durch Göring 1941 ist mittlerweile von der Forschung überholt. Obwohl Burleighs Fußnoten kaum einen jüngeren Titel von Rang und Namen vermissen lassen, verheddert er sich in dem komplizierten Geflecht von zentralen Befehlen und regionalen Initiativen und fällt hinter die bereits erreichte Klarheit in der Erforschung jenes Mordprozesses zurück.
Zum Schluss gar gibt es noch Kapitel zum deutschen Widerstand, zur amerikanischen und russischen Militärstrategie, zum Bombenkrieg – und wer bis hierher gelangt ist, wird kopfschüttelnd auf die meilenweite Distanz blicken, die diese Kapitel von der eingangs gestellten Frage trennen. Wäre nicht vielmehr zu erwarten gewesen, statt alliierter Kriegsführung die so genannte „Heimatfront“ in den Mittelpunkt zu stellen, die Beziehungen zwischen den Soldaten an der Front und ihren Angehörigen zu Hause, die ausdauernde Loyalität der Deutschen zum NS-Regime bis zum Schluss – trotz aller erkennbaren Erosionen?
Die Frage nach der Bindungskraft des Nationalsozialismus noch in den letzten Kriegsmonaten ist eben nicht am Kartentisch in Hitlers Hauptquartier zu lösen, sondern eher in den Trümmerlandschaften und Bombennächten, in der Ahnung der Schuld und der Hoffnung nach Überleben zu finden. Dort, wo es spannend und aufschlussreich zu werden verspricht, beschränkt sich Burleigh auf dreizehn Seiten. Warum musste es eine Gesamtdarstellung sein mit dem Zwang zur Vollständigkeit, wo sich auf tausend Seiten auswächst, was auch hätte präziser, knapper und konziser geschrieben werden können?
Was hat Burleigh gehindert, den am Anfang skizzierten Leitfaden der politischen Religion aufzunehmen und mit seiner Hilfe den Nationalsozialismus zu untersuchen, dessen Faszination und Glaubensmächtigkeit, Erlösungs- wie Beuteversprechen Unzählige zu Tätern werden ließen? Dass er es kann, hat er bewiesen. Burleighs jüngstes Buch ist zweifellos sein umfangreichstes, aber leider nicht sein bestes.
Michael Burleigh: „Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung“. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2000, 1088 Seiten, 88 DM
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