Familienberaterin über Missbrauch: "Die gleichen Schwachpunkte"
Die verschiedenen Erziehungsmethoden haben ihre Schwachpunkte an der gleichen Stelle, meint Familienberaterin Christine Ordnung: Wenn Methode und Ziel wichtiger werden als die persönliche Entwicklung.
taz: Frau Ordnung, die Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen schienen leicht mit deren restriktiver Sexualmoral und ihrer autoritären Struktur erklärbar. Jetzt wissen wir auch von Missbrauch an Reformschulen, die gerade nicht für Hierarchien stehen wollen. Was sagt uns das?
Christine Ordnung: Es sagt uns, dass die ersten Erklärungsversuche nicht ausreichen. Es ist ja nicht die Pädagogik, die missbraucht: Es sind Menschen. Und die machen überall Fehler.
Also können wir die Schuld nicht bei pädagogischen Konzepten suchen?
49, vom Deutsch-Dänischen Institut für Familientherapie und Beratung (www.ddif.de) in Berlin will die Pädagogik des Dänen Jesper Juul hier etablieren.
Es wäre falsch, speziell die Jesuiten oder die Reformpädagogen an den Pranger zu stellen. Wir wissen, dass Missbrauch von Kindern überall passieren kann: in Sportvereinen, in Jugendcamps, in den Familien selbst. Und sowohl bei den Jesuiten wie bei den Reformpädagogen gibt es ja auch Menschen, die Hervorragendes geleistet haben.
In beiden Fällen haben viele Opfer sich nicht getraut, die Täter anzuklagen und viele, die sich trauten, wurden von Erwachsenen nicht ernst genommen.
Ja, und genau da liegt der Punkt, wo man auch pädagogische Grundkonzepte hinterfragen und die pädagogische Haltung der verantwortlichen Erwachsenen betrachten muss. Im Grunde haben die auf den ersten Blick so verschiedenen Erziehungsmethoden von Jesuiten und Reformpädagogen - und auch viele andere heute populäre pädagogische Systeme - an der gleichen Stelle ihre Schwachpunkte: Da, wo die Idee, die Methode und das Ziel wichtiger werden als die persönliche Entwicklung der Kinder. Kinder werden dann dazu gebracht, Dinge zu tun, von denen die Erwachsenen glauben, dass sie richtig sind - oder Werte zu übernehmen, die Erwachsene formuliert haben. Früher arbeitete man dabei mit Strafe, heute mit Lob. Aber das Ziel ist dasselbe.
Müssen Kinder nicht zwar ermutigt, ihnen aber auch Grenzen gezeigt werden?
Aber nicht, indem man sagt: Das will ich, das hast du auch zu wollen. Auf das "Das will ich" muss die Frage folgen: Was willst du? Entwicklungsforschungen aus den letzten drei Jahrzehnten haben gezeigt, dass Kinder von Geburt an soziale Wesen sind, die kooperieren, auch Verantwortung übernehmen wollen. Wenn man ihnen sagt: Mach, was ich will, oder du bist kein Teil unserer Gemeinschaft mehr, zwingt man sie gegen ihren Willen zur Kooperation. Das ist ein Angriff auf ihre Integrität. Die zu schützen, ist aber die Aufgabe der Erwachsenen.
Kinder passen sich an, um nicht isoliert zu sein?
Ja. Es ist in unserer Gesellschaft immer noch viel zu selbstverständlich, Kinder zu bewerten, zu beschämen, bloßzustellen. Das hängt auch mit Erziehungstraditionen zusammen. Viele Erwachsene haben selbst nicht gelernt, ihre Integrität zu schützen, in Beziehungen zu anderen Grenzen zu setzen, gut für sich zu sorgen. Gerade Kinder, deren Integrität in der Familie von den Eltern nicht ausreichend geschützt wird, neigen oft dazu, zu viel Verantwortung zu übernehmen, zu stark zu kooperieren. Diese Kinder müssen eigentlich ermutigt werden, sich abzugrenzen, eben auch mal Nein zu sagen. Für Lehrer ist das oft schwer, weil sie gewohnt sind, das als Verweigerung zu sehen und nicht als Chance für einen Dialog.
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