Fallschirm-Journalisten: "Schon unser Vokabular ist parteiisch"
Die Nachrichtenindustrie schafft eine künstliche Medienwelt, die nichts mit der realten Welt gemeinsam hat, meint der holländische Auslandsreporter Joris Luyendijk.
taz: Herr Luyendijk, als Sie Korrespondent für die arabische Welt wurden: Was hat Sie anfangs am meisten überrascht?
Joris Luyendijk: Dass die Mehrheit der Auslandskorrespondenten kein Arabisch spricht! Ob man nun die New York Times, Newsweek oder die Süddeutsche Zeitung nimmt - selbst der berühmte britische Journalist Robert Fisk spricht kein Arabisch. Ich finde das immer noch unglaublich.
An welchem Punkt haben Sie Ihr Vertrauen in die gängige Berichterstattung verloren?
Das Schüsselereignis war der 11. September 2001. Mich hat bestürzt, dass es über die jahrzehntelange Unterstützung arabischer Diktaturen durch den Westen anfangs überhaupt keine Debatte gab. Das war wie ein Tabu, wie eine geheime Verschwörung: Wir sprechen jetzt einfach nicht über den weißen Elefanten im Raum. Wir können über alles andere reden: den Lärm, den Dreck, die Scheiße des Elefanten - aber nicht über den Elefanten selbst. Dass dieser weiße Elefant eine Diktatur ist. Und dass diese Diktatur nur dank unserer Unterstützung überlebt.
Sie eröffnen Ihr Buch mit einem Zitat aus einem Song von Leonhard Cohen: Es gibt einen Krieg zwischen denen, die sagen, es ist Krieg, und denen, die sagen, da ist keiner. Ist das die Grundthese Ihres Buches?
Ich glaube, als Journalist kann man nicht wirklich objektiv sein. Nehmen wir etwa den Nahostkonflikt. Wir Journalisten geben da immer den Radikalen das Wort. Die radikalen Israelis sagen, der Terror der Palästinenser beweist, dass sie keinen Frieden wollen. Und die radikalen Palästinenser sagen, nein, die israelische Regierung ist der wirkliche Verbrecher. Würden wir einem Aktivisten der Friedensbewegung das Wort geben, dann bekämen wir ein ganz anderes Bild.
In Ihrem Buch schreiben Sie über medial bedingte Missverständnisse. Haben Sie dafür ein prägnantes Bespiel?
Die palästinensischen Steinewerfer sind mein Lieblingsbeispiel. Als ich damals in Beirut wohnte, bat mich meine Redaktion, nach Ramallah zu fahren. Ich hatte im Fernsehen Bilder von Steinewerfern gesehen, und diese Szenen sahen wirklich furchtbar aus. Ich dachte, jetzt gehe ich in den Krieg. Als ich dann endlich in Ramallah ankam, war es dort so friedlich wie in Köln oder Amsterdam: Kinder kamen aus der Schule, Busse fuhren ihre Runden, die Tomaten waren im Sonderangebot. Als ich dann nach den Steinewerfern fragte, antwortete man mir: Immer geradeaus, dann nach links. Dort finden Sie jeden Tag nach zwei Uhr die Steinewerfer. Und tatsächlich, am nächsten Tag habe ich dort dann die Steinewerfer angetroffen. Die Bilder auf CNN hatten ein völlig verzerrtes Bild geliefert.
Woran lag das?
An den Nahaufnahmen. Wenn man eine andere Kameraperspektive gewählt hätte, dann hätte man erkennen können, dass es da auch Zuschauer gab, die in Ruhe ihren Falafel aßen. Wenn man einen anderen Blickwinkel gewählt hätte, dann hätten die Bilder aber eben auch nicht halb so dramatisch gewirkt.
Was kann man gegen solche Verzerrungen tun?
Wir müssen die Auswahl dessen, worüber berichtet wird, besser prüfen. Ein Beispiel: Wenn israelische Regierungen in einem Jahr zwischen 1.000 und 3.000 Palästinenser ermorden, dann bekommt das sehr viel Aufmerksamkeit. Aber wenn Russland in Tschetschenien 100.000 Leute ermordet, dann wird darüber kaum berichtet, denn es ist für einen Journalisten praktisch unmöglich, nach Tschetschenien zu gehen. Im Laufe eines Jahres finden sich in unseren Medien deshalb vielleicht drei oder vier Berichte über Tschetschenien - und 25 über Israel. Deshalb denken die Zuschauer, dass Israel wirklich ein schrecklicher Staat ist. Dabei ist Israel im Vergleich noch ein sehr anständiger Staat.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Korrespondenten vor Ort arbeiten. Wie sieht das aus?
Ich dachte einmal, ein Journalist sei jemand, der einfach aufschreibt, was geschieht. Dann habe ich gelernt, wie der heutige Fallschirm-Journalismus funktioniert: Man macht eine Punktlandung, wie mit einem Fallschirm. Und wenn man ankommt, braucht man vor Ort einen Dolmetscher und einen "Fixer", der einem die Termine "fixt" - das ist jemand, der einem in Gaza-Stadt eine Witwe organisiert, die bei einem israelischen Angriff ihren Mann verloren hat. So ein Fixer hat meist ein ganzes Portefeuille solcher Kontakte parat, aus denen ich dann auswählen kann. Der gleiche Fixer arbeitet auch für die New York Times, die BBC und die Süddeutsche Zeitung. Und er weiß, wie wichtig vor allem fürs Fernsehen die Originalzitate sind, die sogenannten O-Töne.
Was ist daran so besonders?
Im Fernsehen hat man im Schnitt nur 12 Sekunden für einen O-Ton. Man braucht also in der Regel einen Interviewpartner, der versteht, dass er nur 12 Sekunden hat - und keine 12 Minuten. Diese Fixer haben meist eine Liste von solchen "Talking Heads" bereit. Es ist dabei nicht wirklich wichtig, ob ein solcher "Experte" auch wirklich ein Experte ist: Wenn er nur oft genug auf CNN erscheint, dann wird er wichtig. So bekommt man eine künstliche Medienwelt, die meilenweit entfernt ist von der realen Welt. Da gibt es Experten, bei denen alle wirklichen Kenner die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: Das ist doch ein Vollidiot! Aber der wird dann zu einem Selbstläufer.
Ist ein Hauptproblem im Journalismus also die Zeit?
Ja. Die Nachrichtenindustrie verkauft die Illusion, dass es ein Verstehen auf Knopfdruck gibt. Aber es ist einfach unmöglich, ein komplexes Problem in ein paar Sekunden zu erklären. Alle Experten, die vor dem Irakkrieg erklärt haben, warum das, was die USA im Irak versuchen, unmöglich funktionieren könne, haben dafür fünf Minuten gebraucht. Man kann der Ambiguität dieser Welt nicht in zwölf Sekunden gerecht werden. Dafür bräuchte es einen völlig neuen Nachrichtenjournalismus.
Unsere Wahrnehmung wird durch unsere Sprache geprägt. Welcher Sprache bedienen sich die Medien?
Es ist ein asymmetrisches Vokabular. Für die wichtigsten Dinge gibt es keine unparteiischen Begriffe. Wenn etwa die Haltung des syrischen Präsidenten den Interessen des Westens widerspricht, dann sagt man, er sei "antiwestlich". Von einen US-Präsidenten heißt es dagegen nie, er sei "antiarabisch" oder "antiiranisch". "Anti" heißt: Er hasst uns. Wenn nicht, ist er gemäßigt. Ich bin kein Neonazi. Aber nennt man mich darum einen "gemäßigten Europäer"? Doch ein Muslim, der kein Dschihadist ist, wird als "gemäßigter Muslim" bezeichnet. Das impliziert, dass er als Extremist geboren wurde, aber diesen Extremismus hat er zum Glück gemildert.
Welchen Ausweg sehen Sie aus diesem Dilemma?
Ich weiß auch nicht, wie man den Journalismus objektiver machen kann. Das ist ein altes Thema. Aber ich glaube, wir müssen offener mit den Problemen umgehen und dem Publikum klarer machen, dass wir nur eine Version der Wahrheit abbilden. Aber ist das Publikum wirklich bereit, das zu hören? Dass wir vielleicht von unserer eigenen Regierung manipuliert werden? Ich glaube, viele Leute schalten die Nachrichten ein, um zu hören, dass ihre Regierung letztendlich recht hat.
INTERVIEW: ANNETTE BRÜGGEMANN
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