: Fall Weimar, dritte Runde
Vor dem Frankfurter Landgericht begann gestern der dritte Prozess gegen Monika Böttcher wegen Doppelmordes an ihren beiden Kindern ■ Aus Frankfurt/Main Phillipp Mausshardt
Nur das eine ist klar: Monika Böttcher, geschiedene Weimar, hat am 4. August 1986 ihre beiden Töchter Melanie (7) und Karola (5) umgebracht oder nicht.
Darum wurde sie zunächst 1988 in Fulda zu lebenslanger Haft verurteilt und 1997 in Gießen freigesprochen. Nun steht die inzwischen 41-Jährige seit gestern in Frankfurt am Main wieder vor Gericht, und der Vorsitzende Richter der 21. Strafkammer, Heinrich Gehrke, behauptete zu Beginn des Prozesses allen Ernstes: „Es handelt sich hier um ein ganz normales Verfahren.“
Da lachten sogar einige Zuhörer im Gerichtssaal unbeeindruckt auf. Denn was sich im Saal 165 an insgesamt 40 Verhandlungstagen bis in das nächste Jahrtausend hinein abspielen wird, ist der in der deutschen Justizgeschichte wohl einmalige Vorgang, dass ein und dieselbe Angeklagte sich wegen ein und desselben Vorwurfs dreimal vor verschiedenen Gerichten verantworten muss.
Der „Fall Weimar“ wird noch einmal vom Nullpunkt aufgerollt. Dabei ist 13 Jahre nach dem Doppelmord alles gesagt und alles geschrieben worden, was das Familienleben der kaputten Ehe zwischen Reinhard und Monika Weimar betraf. Nur ein einziges Sätzchen aus dem Mund einer der beiden Eheleute fehlte: „Ich war es.“ Reinhard zeigte auf Monika, und Monika zeigte auf Reinhard. Und das, so zeigte sich bereits am gestrigen ersten Verhandlungstag, wird auch weiter so bleiben.
Monika Böttcher, die inzwischen im Raum Frankfurt lebt, kam in Begleitung von gleich drei Anwälten. Darunter der Hamburger Gerhard Strate, Spezialist für verloren geglaubte Prozesse. Ihm war 1995 die spektakuläre Wiederaufnahme des Verfahrens gelungen. Eine mikroskopisch kleine Textilfaser, die an der Kleidung der Mutter haftete, hatte dem ersten Gericht in Fulda das entscheidende Argument für das „lebenslänglich“ geliefert. „Zu wenig“, urteilte neun Jahre später das Frankfurter Oberlandesgericht.
In dem darauf folgenden Gießener Verfahren schwieg Monika Böttcher. Gestern, auf die Frage von Richter Gehrke, antwortete sie mit ihrer brüchigen Stimme: „Ich bin bereit.“ Sie will reden, sie will die Geschichte ihrer katastrophalen Ehe mit dem alkoholkranken Reinhard und ihrer Liebesbeziehung zu dem US-Soldaten Kevin Pratt noch einmal erzählen, obwohl jeder innerhalb und außerhalb des Gerichtssaales alle Details bis hin zu ihrer Orgasmus-Fähigkeit schon tausendmal gehört hat. Die Begriffe „Tagversion“ (sie hat die Kinder umgebracht) und „Nachtversion“ (er ist's gewesen) sind in den allgemeinen Sprachgebrauch jedes Hobby-Kriminologen übergegangen.
Aber Monika Böttcher weiß auch nach zwei Verfahren, wie schwer ein einziges falsches Wörtchen wiegen kann. Darum waren gestern ihre Überlegungspausen vor jeder Antwort immer so viel länger als die Antwort selbst.
Richter Gehrke ist ein ruhiger, besonnener Mann. Mit seinem Teddybärchen-Aussehen und seiner leicht lispelnden Aussprache hat er schon in seinem letzten großen Verfahren gegen den Bau-Pleitier Jürgen Schneider allen Beteiligten das trügerische Gefühl vermittelt, ein ganz harmloser Zeitgenosse zu sein – und dann am Ende in seiner Urteilsbegründung knallhart den Banken ihre Mitschuld hingeknallt.
Jetzt fragt er Monika Böttcher wieder so harmlos, ob ihr Ex-Mann bei der Kindererziehung nicht mitgewirkt und beispielsweise die Kleinen mal gefüttert oder angezogen habe? Eine tückische Frage, denn man weiß, dass laut ihrer Version Reinhard Weimar die toten Kinder nach dem Mord angezogen, ja, ihnen sogar noch die Haarklammern angesteckt haben soll, bevor er sie in einem Waldstück ablegte. Aber natürlich fällt die Angeklagte auf solche Fangfragen nicht herein. Ja, Reinhard habe die Schwestern schon hin und wieder angezogen und gekämmt.
Monika Böttcher sitzt leicht nach vorne gebeugt auf dem Stuhl, wirkt während ihrer langen Schweigesekunden merkwürdig abwesend. Einmal weint sie, als sie ihre Kinder erwähnt, doch auch da reagiert der Richter einfühlsam: „Sagen Sie immer, wenn Sie eine Pause wünschen.“ Selbst bei den rund 100 Zuhörern entschuldigt sich Richter Gehrke einmal dafür, dass das Saalmikrofon nicht richtig eingestellt war.
Die Verhandlung findet in einem Saal statt, der sich laut Verteidiger Strate „durch beeindruckende Hässlichkeit“ auszeichnet. Die Zuhörer sitzen hinter Glasscheiben wie im Käfig, und die beteiligten Prozess-Personen hocken wie Kanarienvögel aufeinander. Auch dafür entschuldigte sich Richter Gehrke.
Die Zuhörer: Sie haben geklatscht, als Monika Weimar 1988 zu „lebenslang“ verurteilt wurde, und sie haben geklatscht, als sie 1997 freigesprochen wurde. Dieses, das dritte Mal, ist ihre Sympathie oder Antipathie der Angeklagten gegenüber nicht so deutlich zu erkennen. Einige stehen schon vor Beginn der Verhandlung vor ihren Stühlen, nicht etwa aus Respekt vor dem Hohen Gericht, sondern um den Eintritt der Frau in Jeans und grauem Sweatshirt ja nicht zu verpassen. Als das gestörte Sexualleben der Eheleute Weimar vom Richter zur Sprache gebracht wird, gibt es Murren: „Muss das sein?“ murmelt ein Zuhörer, bevor Richter Gehrke aus den Akten die traurige Bettgeschichte verliest.
Mit dem Geliebten Kevin hat es besser geklappt, erfährt man (zum wie vielten Male?) anschließend. Ist das wichtig, um zu erfahren, ob die Zuneigung zu dem US-Soldaten so groß war, dass Monika Weimar dafür über Leichen ging? Oder hat nicht eher die bevorstehende Trennung den zurückgesetzten Ehemann zu der Verzweiflungstat getrieben?
Reinhard Weimar wird dazu nichts sagen. Jedenfalls, wenn es nach ihm und seinen Anwälten geht. Er tritt in diesem Verfahren als Nebenkläger auf, als Zeuge will er aber nicht zur Verfügung stehen. Das hat er das Gericht wissen lassen. Er sei krank und vernehmungsunfähig. Richter Gehrke hat darum eine amtsärztliche Untersuchung anordnen lassen.
Schon die ersten Stunden dieses neuen Verfahrens haben gezeigt, dass es an Fakten nichts Neues gibt. Das Gericht, das rund 50 Zeugen geladen hat, wird also das Altbekannte nur neu bewerten. Und schon jetzt kann man zur Urteilsverkündung im Jahr 2000 sagen, wie immer sie auch ausfällt: Zweifel bleiben.
Die Verhandlung wird am kommenden Dienstag fortgesetzt. Dann soll Monika Böttcher zum Mordvorwurf aussagen.
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