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Fahrtbewegungen

■ „Macao oder die Rückseite des Meeres“ - über den neuen und über die älteren Filme des Schweizer Filmemachers Clemens Klopfenstein

Jörg Becker

Bilder aus einem gewöhnlichen Paradies: „Als ich ganz Macao auf Video hatte, beschloß ich, mit dem Velo auf die zwei Macao vorgelagerten Inseln zu radeln. (...) An brennenden Abfallhalden und halbfertigen Großhotels vorbei gelangte ich schließlich über eine weitere Brücke auf die Insel Coloane mit dem gleichnamigen Fischerdörfchen: ein zeitloser, schmuddeliger Ort, mit apathisch schlurfendem Leben. Amphibien hüpfen im Schlamm, alte Leute lächeln zahnlos, Fische hängen zum Trocknen in den Bäumen. Dies war mein Ort. Er erinnerte mich an die alten, abgeschabten Wartesäle im Ostblock aus Transes. Die Idee eines banalen Jenseits, das zwar anders, aber überhaupt nichts Besonderes ist, leuchtete mir sofort ein.“ So schreibt Klopfenstein über die Vorbereitungen zu seinem Film.

Wörter auf dem Globus: Eine Kombination von Namen und Orten und eine Geschichte, die zwischen den entlegendsten Stellen der Erde spielt, schaffen in Macao eine „schöpferische Geographie“ - jederzeit könnte überallhin eine Verbindung geschlagen werden: Macao, die letzte Überseekolonie Portugals an der Südküste Chinas - kennt man den Ort nicht, so vernimmt man zuerst die sanfte, dunkle Lautfolge des Namens, in der Mitte konsonantisch gebrochen, dann im Übergleiten zwischen den Vokalen ein Auffangen und Abrunden des Wortes, eine Schwelle der Mischung fast gleicher Farbtöne, ein nahezu unsichtbarer Übergang, obwohl doch an dieser Stelle die Grundfarbe zu wechseln scheint. Ein exotisches Ausklingen, von hier nach dort, hinüber - das Wort gibt dem „Reich der Toten“ Wirklichkeit.

Handelsschiffe waren auf ihrer Fahrt um die Erde auch in Macao vor Anker gegangen. Hier nun steht dieser Name für den fremden Ort schlechthin, egal wie angeglichen, wie gleichgemacht die wirkliche Stadt auch immer schon sein mag. Am Ufer dieses „banalen Jenseits“, an der „Rückseite des Meeres“, wird der Schweizer Dialektforscher Mark Grundbacher an Land gespült; er ist auf dem Flug nach Stockholm irgendwo zwischen Lübeck und Danzig mit der Passagiermaschine in die Ostsee gestürzt. Nach ihm wird der Pilot (Hans-Dieter Jendreyko) aus den Fluten gerettet.

Auf dem Flug nach Stockholm abzustürzen und an das Gestade eines Ortes gespült zu werden, der Macao heißt, das versetzt die beiden Überlebenden in völlige Orientierungslosigkeit. Sie sitzen am Meer und verfolgen den Lauf der Sonne, den Stand der Gestirne - aber was nützt das schon in einem Jenseits, von dem man die längste Zeit des Films über nichts weiß und nörglerisch ungläubig nichts wissen will.

Den Gestrandeten folgen fortan zwei freundliche chinesische Beschützer; gerade ihre Höflichkeit ist wie ein Vorbote des Alps.

„Das Echo im Dialekt des Lautenbrunnertals“ - das ist nicht allein der Titel einer wissenschaftlichen Arbeit, mit der der Held dieses Films beschäftigt ist, sondern auch ein raffinierter Kunstgriff, mit dem der Regisseur das Dialektverbot der Fernsehredakteure (Macao ist vom ZDF und vom SRG mitproduziert) zu unterlaufen wußte. Anfangs besucht der Dialektforscher Mark Grundbacher (Max Rüdlinger) mit seiner Frau Alice (Christine Lauterburg) zwei Bewohner des kleinen Tals, befragt sie und nimmt sie auf Band auf. Gleich entspinnt sich ein Streit der beiden Alten, denn jeder hat ein eigenes, von dem des anderen unterschiedenes Wort für dieselbe Sache und ist davon nicht abzubringen.

Schwyzerdütsch ist wohl erst durch Filme von Clemens Klopfenstein in die Kinos gekommen, angefangen mit E nachtlang Füürland (1981), der überwiegend in der Berner Innenstadt gedreht worden war. Ebenso charakteristisch wie der Dialekt sind für Klopfensteins Filme die Kunst des dauernden Übergangs in endlosen Fahrtbewegungen und die Motive weitläufiger Verkehrslinien sowie die Kommunikationsapparate.

Von diesem asiatischen Flecken dringt kein Telefon nach außen, Telegramme landen wieder beim Absender; selbst die Fähre, mit der die beiden Überlebenden zu fliehen versuchen, fährt immer nur wieder auf dieselbe Anlegestelle zu und das bei geradem Kurs (Albert Einstein wollte Klopfenstein allerdings nicht an Bord des Schiffes auftreten und das Phänomen erklären lassen, die bereits erwähnten Fernsehredakteure hatten ihm das tatsächlich nahegelegt).

Manchmal dringen übersinnliche Signale durch die Sphäre zwischen Diesseits und Jenseits: der Nachklang eines traurigen Jodelgesangs, den die zurückgelassene Alice aus der Macao-Poststelle anwählt. Einmal beugt sich Alice in der Nacht lauschend über die Balkonbrüstung; von unten schallt nur das städtische Rauschen herauf, an Asphalt und Ziegeln, an Eisen und Glas gebrochenes Echo der Stimmen...

Schon im Klang der Namen vielleicht, sicher aber in den Assoziationen, zu denen sie Anlaß geben, enthüllen sich Lübeck und Danzig als eben jene rechtschaffenen, engen ziegelroten Hansefestungen, in denen das Kalkül sich die Welt aneignet - Macao indes liegt ewig hinterm Horizont der kleinen Ostsee. Ein Ort, den man wirklich zu Gesicht bekommt in diesem Film, aber dessen gewöhnlichem Anblick Klopfenstein beim Drehen doch durchweg den Rücken zugewendet hat. Man sieht Hütten und Strand, ein Ort, der für keinen anderen stehen soll. Man sieht nicht die westlich überzogene chinesische Stadt mit den riesigen Werbeflächen; Teile von Spielbergs Indiana Jones sind hier gedreht und ganze Straßen dafür umgebaut worden. „Macao sieht aus wie eine Stadt an der Riviera mit einem Chinesenviertel“, schreibt Klopfenstein.

Seinen Drehort hat er durchgearbeitet wie Ton, bis in den letzten Winkel durchstreift und zur Gänze „abgedreht“, aufgenommen und schließlich doch völlig aus dem Konzept rausgelassen, mit Ausnahme dieses kleinen Fischerdorfs.

Je umfassender die Anschauung, je intensiver die Studien vor Ort, desto konzentrierter der Kamerablick, desto enger und schärfer der Bildausschnitt. Die Orte müssen nicht als Kulisse dekoriert für einen anderen dienen, in Sachen Geographie wird man nicht getäuscht. Unabhängig davon, ob die Orte und Wege Namen haben und zu finden sind.

An Namen sind Vorstellungen geknüpft, auch hier wird ihnen etwas zugesetzt, der reale Schauplatz des Films dagegen ist eigen und namenlos, nur immer ein besonderer Partikel der Erdoberfläche, eine bestimmte Passage über sie hinweg.

Der Film spielt mit den Parallelhandlungen im Südchinesischen Meer und in den Städtchen, Tälern und Seen der Schweiz, zwischen der zurückbleibenden trauernden Frau und dem verunglückten Mann im östlichen Jenseits. Er ist also „gegeneinandergesetzt“ - und auch „zueinandergesetzt“, indem er Szenen, die zwischen zwei Erdteilen spielen, kausal koppelt, wenn ein Faktor Psi sich auszudrücken scheint als das Verkehrsmittel, das anderswo das Flugzeug ist. Das „Wunder der Montage“: Der Zuschauer erblickt den rätselhaften Zusammenhang. Ganz märchenhaft wird das Geschehen, wenn man die Meere, die der Film zeigt, wie Vor und Rückseite ansieht; unsere Einbildungskraft muß die großen Entfernungen nicht zurücklegen, sie wird von ihnen angeregt. Clemens Klopfenstein, der einmal nächtliche europäische Städte von Dublin bis zum Bosporus zusammengesetzt hat zu einer Gesamtstadt, Geschichte der Nacht, der in Transes Aufnahmen einer Fahrt über den Kontinent wie Kraftvektoren addiert hat, durch welche der ewige „Transit“ sich in eine „Trance“ umwandelt - in diesem Wirklichkeitsmärchen hat er die beiden Enden der Welt einfach zusammengeführt. Hier ist eine Trance-Airlines im Spiel.

Bei Klopfenstein haben sich die Bilder von den Vehikeln, von Verkehrsmitteln aller Art verselbständigt; man könnte sagen: er ist deren Regisseur, er kadriert sie im Fluß, schwenkt ihnen nach und verweilt immer für „gehörige“ Zeit in Fahrtbewegungen, die in anderen Spielfilmen höchstens angerissen und sehr bald abgeschnitten werden. Stets ist das Fahren selbst von Bedeutung, selbst das Ziel und nicht Zweck im Rahmen einer Story. Klopfensteins Bildmotive verlieren sich nicht in einer Erzählfunktion, ihre Sprache löst sich nicht auf, bleibt lebendig und wird nicht im Verstandenwerden aufgehoben.

Nachdem Alice aus dem Fernsehen vom Flugzeugabsturz erfahren hat - das Programm geht weiter mit einer Reportage über Teilchenbeschleuniger unter dem Titel „Was hält die Welt im Innersten zusammen?“ -, läuft sie nachts aus dem Haus in dunkelblaue „amerikanische Nacht„; wogende Tropenvegetation färbt das folgende Bild exotisch ein, reines Farbenmuster, dann der Umriß einer Dschunke auf See, weit weg am Horizont. Asien. Das silbrige Flimmern der Wellen vor den Augen von Alice, die es an den See gezogen hat, verwandelt sich in das ferne Meer im Mondschein, unter einem sternenübersäten Nachthimmel, als sei die Milchstraße nah herangeholt worden. Wie im All, in einem künstlich ungeschiedenen Dunkel, rudern Mark Grundbacher und der Pilot auf dem Meer, auf der Flucht aus dem unentrinnbaren Fischerdorf. Weitab, in dieser ewig erscheinenden Nachtfahrt, zeigt sich endlich, als der Pilot vor Erschöpfung fast zusammenbricht, daß Mark bereits unter den Toten weilt. In diesem Jenseits spürt er weder Schmerz noch Anstrengung.

Durch sein Sterben im Jenseits kann der Pilot auf der Vorderseite des Meeres, auf der Ostsee, in einem Rettungsboot gefunden werden. Der Film springt wie über eine Schwelle in anderes Licht, andere Farben, andere Temperaturen - nach Dänemark. Ein welliges, rotorgepeitschtes und aufgewühltes Grasland, darüber hinweg und über das Meer startet der Hubschrauber vom dänischen Festland aus.

Ein Kutter auf der Ostsee mit Namen „Vita Vest“ hat die beiden Flüchtlinge aus dem anderen Leben geborgen. Man bringt sie, den einen tot, doch im Jenseits lebendig, den anderen wiedergenesend, doch auf der Rückseite des Meeres ertrunken, aus einem signalfarbenen Schwimmzelt in Skagen an Land. Dies orangene Rettungsei gaukelt auf See dahin, als sei es das Transportmittel zwischen hüben und drüben: „Made by Rescue Systems Macao“.

Clemens Klopfenstein, Macao oder die Rückseite des Meeres, mit Max Rüdlinger und Christine Lauterburg, Schweiz/BRD 1988

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