piwik no script img

FÜR DIE GRÜNEN GEHT ES UM IHR SELBSTBILD ALS ANTIKORRUPTIONSPARTEIVeränderung oder Verrat?

Cem Özdemir hat einen Billigkredit angenommen. Den hätte er nicht bekommen, wenn er nicht Bundestagsabgeordneter wäre. Ihn anzunehmen war ein Fehler, keine Frage – doch Korruption buchstabiert man anders. Özdemirs Erklärung, dass er Geld brauchte, weil er vergessen hatte, Rücklagen für eine Steuernachzahlung zu bilden, klingt nicht nur erfreulich unschwäbisch – sie ist auch plausibel. Nicht „Politiker-Gier“, wie Bild suggeriert, war hier am Werk, sondern Einfalt.

Zudem ist diese Affäre, mehr als sonst, eine Frage des Zeitpunkts und des Parteibuchs. Wäre Scharping nicht gestürzt, wäre Özdemir in der FDP – der Fall wäre in einer Kurzmeldung beerdigt worden. Deshalb ist die Empörung bigott, mit der CDU-Mann von Stetten das Karriereende von Özdemir fordert. Wenn wir also den konkreten Fall betrachten, ist alles halb so schlimm. Aber der maßvolle, kühle Blick auf die Fakten verfehlt geradewegs den heißen politischen Kern der Affäre. Denn auf dem Spiel steht, ob die Grünen noch für sich reklamieren können, dass sie sich treu selbst geblieben sind. Oder sie auf dem langen Weg zur Mitte, auf dem Marsch von der Antiparteien-Partei in die Regierung, ihre Ideale vollständig verschlissen haben. Die habituellen Unterschiede zu den früheren „Altparteien“ sind längst verschwunden. Und die Prinzipien von gestern sind, von der Basisdemokratie bis zum Pazifismus, im Regierungsgeschäft eingeschmolzen. Das war, so das grüne Selbstbild, nötig auf dem Weg nach oben. Doch ein Unterschied existiert noch: Die Grünen sind, anders als die Koch-CDU, als die Kölner SPD und die Lambsdorff-FDP, nicht korrupt. Das, zumindest, ist geblieben von der hohen, zu hohen Moral des Anfangs.

Nicht korrupt – das ist die Legende, mit der sich die Grünen 2002 ihrer selbst versichern. Denn es zeigt: Wir sind, trotz Porsche und Schlips, noch immer anders als die anderen. Wir haben uns verändert, aber wir haben uns nicht verraten. Deshalb geht es nicht um 2.000 Euro Zinsersparnis für Cem Özdemir. Es geht um die wackelige Konstruktion, dass die Grünen Moral und Erfolg miteinander versöhnt haben. STEFAN REINECKE

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen