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FISCHER EHRT RATHENAU – UND ZIELT AUF LIBERALES ERBE FÜR DIE GRÜNENEine Geste der Aneignung

Die Geschichte gleiche einem Friedhof, dessen Raum abgemessen ist und auf dem jederzeit Platz für neue Gräber gefunden werden müsse, sagt eine Metapher von Maurice Halbwachs. Ein Grab auszuheben ist mühsam, scheint Joschka Fischer zu wissen, leichter ist es, schon bestehende zu besuchen. Das tut Fischer ganz buchstäblich: Er legt einen Kranz nieder für Walther Rathenau, den vor 80 Jahren ermordeten liberalen Außenminister.

Um Gedenken geht es dabei nur vordergründig. In erster Linie ist die Kranzniederlegung eine Geste der Aneignung. Joschka Fischer reklamiert das Erbe Rathenaus. Fischer sucht nach Ahnherren für seine historisch noch jungen Grünen. Man mag einwenden, Rathenau passe als Leiter der Kriegsrohstoff-Abteilung des Kriegsministeriums und Gegner einer deutschen Kapitulation 1918 nicht zur Geschichte der Grünen. Dies Argument ist richtig, verfängt aber nicht.

Bisher stand der Liberale Rathenau unwidersprochen in der Ahnengalerie der FDP. Sie berief sich – historisch ebenfalls zumindest zweifelhaft – auf den Rathenau, den Verfechter der Weimarer Republik, das Hassobjekt der antisemitischen Rechten. Jetzt ist die FDP dabei, dieses lange erfolgreich reklamierte demokratische Erbe zu verspielen. Achtzehn Prozent, Klamauk und Aktionismus passen nicht zu Rathenau, der als „Erfüllungspolitiker“ das Richtige gegen die Stimmungen der Mehrheit durchsetzen wollte. Angesichts der Verbürgerlichung der Grünen und der Entbürgerlichung der FDP hat Fischer Recht: Die Frage, wer das Erbe des deutschen Vernunftliberalismus in Zukunft glaubwürdig beansprucht, ist offen.

Dies steht nicht im Zentrum des erinnerungspolitischen Interesses – trotzdem ist es wichtig. Wer sich heute für deutsche Geschichte zu interessieren beginnt, dem reicht der Nationalsozialismus als Abgrenzungsangebot nicht aus. Marxisten taugen nicht mehr zur Identifikation. Jüngere setzen sich heute mit deutscher Geschichte vor allem anhand von Büchern wie Sebastian Haffners Bestseller „Geschichte eines Deutschen“ auseinander. Darin entwirft Haffner einen Gegencharakter zu Hitler, eine Art Führer des anständigen Deutschland – Walther Rathenau. ROBIN ALEXANDER

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