piwik no script img

FASCHISMUS Das Diakonische Werk legt den Zwischenstand einer Studie zur NS-Verstrickung der evangelischen „Jugendhilfe“ vorEine ständige Mahnung

„Ausgrenzung und Selektion waren an der Tagesordnung“

Gerda Engelbracht, Kulturwissenschaftlerin

Die Heime der evangelischen Jugendhilfe und Fürsorgeerziehung waren auch in Bremen zwischen 1933 und 1945 tief verstrickt in die gewalttätige und rassistische Ideologie der Nationalsozialisten. Das ist das Zwischenergebnis einer Studie, die das Diakonische Werk in der Hansestadt bei den Bremer Kulturwissenschaftlerinnen Gerda Engelbracht und Andrea Hauser in Auftrag gegeben hat.

„Ausgrenzung und Selektion waren in den Heimen an der Tagesordnung“, sagte Engelbracht. Erste Ergebnisse der Studie sollten am Freitagabend öffentlich präsentiert werden. Die Fürsorgeerziehung in Bremen lag zu Zeiten des Nationalsozialismus in erster Linie in der Hand der Inneren Mission und der Bremischen Evangelischen Kirche. Einrichtungen wie der Ellener Hof und das St.-Petri-Waisenhaus hätten die nationalsozialistische Auslesepolitik und insbesondere die Zwangssterilisation vorangetrieben, sagte Engelbracht.

Sie hätten sich wie andernorts auch nicht dagegen gewehrt, sondern seien Teil eines radikalisierten Erziehungssystems gewesen. „Tausende waren betroffen“, sagte die Kulturwissenschaftlerin. Eine genaue Zahl kann sie noch nicht nennen, auch weil Quellen vernichtet wurden oder verschollen sind.

In die Heime kamen Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen: „Arbeitsbummelanten“ oder Heranwachsende, die kleinere Diebstähle begangen hatten. Viele versuchten zu fliehen. Stockschläge seien an der Tagesordnung gewesen. „Wer nicht folgen wollte, wurde in gefängnisartigen Räumen eingeknastet.“ Wer nach der NS-Rassenideologie als „unwert“ eingestuft wurde, kam in Konzentrationslager.

Engelbracht und Hauser haben auch in auswärtigen Archiven und Sammlungen recherchiert: Einige Kinder und Jugendliche aus der Hansestadt wurden etwa in die Anstalt Freistatt bei Diepholz und in Häuser der Kaiserswerther und der Bergischen Diakonie in Westdeutschland verlegt. Noch sind die Nachforschungen nicht abgeschlossen. Sie sollen Engelbracht zufolge bis in das kommende Jahr andauern.

Den Blick für historische Einzelschicksale zu schärfen, könne die Sicht in den aktuellen Diskussionen etwa zu Ausgrenzung und sexuellem Missbrauch bereichern. Das Diakonische Werk wolle noch mehr Einzelheiten der damaligen Geschehnisse ermitteln, sagte Verbandskoordinator Jürgen Stein. Das Geschehen sei der Diakonie „eine ständige Mahnung, heute und in Zukunft rückhaltlos für die uns anvertrauten Kinder und Jugendliche einzutreten“.  (epd)

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen