Extralange Kinderbetreuung: Zu später Stunde
In einer Neuköllner Kita werden Kinder bis 21 Uhr betreut. Die ErzieherInnen stellt das vor besondere Herausforderungen, den Arbeitszeiten berufstätiger Eltern kommt es jedoch entgegen.
„Wie kannst du nur, das schadet doch dem Kind?“ Diese Frage würden sie durchaus ab und zu hören, sagen Anja Ott und Norman K. Trotzdem sitzen die beiden – jeweils Eltern eines Sohnes – gegen 20 Uhr sehr entspannt in der Kita am Flurweg in Neukölln. Sie warten, bis ihre Sprösslinge mit dem Abendessen fertig sind.
Die Kita hat von sechs Uhr morgens bis 21 Uhr geöffnet. 60 der 235 angemeldeten Kinder haben Anspruch auf Spätbetreuung, den sie beim Bezirksamt nachgewiesen haben. Nur wenige von ihnen bleiben täglich bis zum Schluss. Die Eltern der „Spätkinder“, wie sie in der Kita genannt werden, arbeiten im Schichtdienst oder haben flexible Arbeitszeiten. Für sie gehe es gar nicht anders, sagt etwa Anja Ott. Sie arbeitet als Verkäuferin mit Arbeitszeiten zwischen 6 und 19 Uhr, ihr Mann ist häufig auf Montage unterwegs. Hätte sie die Spätbetreuung für ihren dreijährigen Sohn nicht, müsste sie ihren Job aufgeben.
Norman K., Vater eines Vierjährigen, ist Systemadministrator mit Arbeitszeiten bis 20 Uhr. Wenn ihm jemand Vorwürfe mache, dass er seinen Sohn so lange in der Kita lasse, „dann antworte ich: Die Alternative ist, arbeitslos zu Hause zu sitzen und auf Kosten der Gesellschaft zu leben“, sagt der alleinerziehende Vater.
Die Kinder der beiden sitzen derweil durchaus fröhlich mit den zwei Späterzieherinnen am Abendbrottisch. 15 Kinder sind am heutigen Abend dabei, vom knapp Zweijährigen bis zum Vorschulkind ist die Gruppe gemischt. Im großen Gebäude der Kita ist es ruhig, aus dem Fenster der Spätgruppe strahlt noch Licht in den schönen Garten, der den Flachbau umgibt. Die ruhige Atmosphäre abends ohne Lärm und Hektik sei für die Kinder schön, sagt Erzieherin Sabine Berger*. Natürlich müsse das Programm den Bedingungen angepasst werden. Am frühen Abend „brauchen die Kinder viel Bewegung. Wir toben, wir kneten, malen und lesen.“ Beschäftigungen wie etwa Basteln seien dann nicht mehr so gut geeignet: „Weil die Kinder zu unterschiedlichen Zeiten abgeholt werden und dann traurig sind, wenn sie etwas nicht zu Ende bringen können.“ Sein Sohn sei oft geradezu sauer, wenn er vor dem Abendessen abgeholt würde, sagt Norman K.: „Das gemeinsame Essen in der Kindergruppe ist für ihn doch viel lustiger als allein mit mir zu Hause.“
Auch Erzieherin Sabine Berger kennt die Vorbehalte gegen die Spätbetreuung. Schon in ihrer alten Kita habe sie die Betreuung einführen wollen, sagt sie, „doch deren Leiterin hat damals nur gesagt: Die armen Kinder! Dabei haben doch mittlerweile fast alle Supermärkte bis 22 Uhr geöffnet, viele Behörden bis 8 Uhr abends. Da müssen die Kitas doch mitdenken.“ Den Kindern schade die Spätbetreuung nicht, sagt die Erzieherin: „Die entwickeln sich wie alle anderen auch.“
Für Brigitte Lüttschwager, die Leiterin der Kita, ist es ein Glück, dass sie mit Sabine Berger und ihrer Kollegin zwei Erzieherinnen gefunden hat, die gern im Spätdienst arbeiten wollten. ErzieherInnen sind schwer zu finden in Berlin, gerade für so ungewöhnliche Arbeitszeiten. Die Kita Flurweg hat mitgedacht: Als vor einigen Jahren die Zahl der Anmeldungen sank, habe sich das Team aus knapp 30 ErzieherInnen überlegt: „Was tun wir? Wie leben die Familien hier in der Gegend, was brauchen sie?“, sagt Lüttschwager. Schnell war klar: In der Gegend zwischen dem großen Einkaufszentrum in der Gropiusstadt, dem Neuköllner Krankenhaus und dem im Ausbau befindlichen Flughafen arbeiten immer mehr Menschen mit langen Arbeitszeiten. Ihr Bedürfnis: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. So entwickelte die Kita das Spätdienstangebot. „So etwas geht nur, wenn es vom ganzen Team gemeinsam entschieden und mitgetragen wird“, sagt Lüttschwager.
Jeder Tag dokumentiert
Denn die Abendbetreuung stellt auch die Kita vor besondere Herausforderungen. Das Berliner Bildungsprogramm für Kindertagesstätten verlangt eine genaue schriftliche Dokumentation der Entwicklung jedes einzelnen Kindes, regelmäßige Gespräche mit den Eltern darüber gehören dazu. In den Einrichtungen des freien Trägers Ina.Kindergarten, zu denen die Kita am Flurweg gehört, hat man das Programm sogar noch weiterentwickelt. Jedes Kind hat ein sogenanntes Ich-Buch, in dem seine gesamte Kitazeit mit Bildern, Fotos und Berichten dokumentiert wird.
Das erfordert eine gut organisierte Zusammenarbeit des Kollegiums, in die auch die Späterzieherinnen eingebunden werden müssen. Schriftlich notieren die TageserzieherInnen deshalb alle Informationen über den Tagesverlauf der Kinder, die die Spätbetreuung nutzen: was sie erlebt, gegessen, gespielt haben, welche besonderen Vorkommnisse es gab. Beim Dienstantritt der Späterzieherinnen um 14 Uhr werden diese Informationen in einer Übergabe besprochen. Auch Mitteilungen an die Eltern werden so weitergegeben – etwa, wenn Ausflüge oder Projekte wie kürzlich eine Forscherwoche zum Thema gesunde Ernährung anstehen. Denn auch dabei werden die Spätkinder selbstverständlich einbezogen: „Die gesamte Zeit, die Ihr Kind bei uns verbringt, ist Bildungszeit“, heißt es in einem Informationsblatt der Kita. Beim Abholen bekommen die zudem täglich einen Brief, den die Kinder mit den Erzieherinnen verfasst haben. „Mein Tag“ steht darüber, und er informiert die Eltern über alles, was ihre Kinder, während sie arbeiteten, in der Kita erlebt haben. Die Kommunikation klappe gut, bestätigen die Eltern Ott und K. „Und wenn etwas Dringendes ist, bekommen die Eltern eben einen Anruf“, sagt Kitaleiterin Lüttschwager.
Sie kennt das schlechte Gewissen vieler Eltern, ihre Kinder in späte Betreuung zu geben. Und macht ihnen Mut: „Wir beobachten die Kinder hier sehr gut.“ Kaum eines habe mit dem Spätdienst Probleme, und den Eltern nehme die Spätbetreuung den Stress. „Ich sage Eltern, die bis 8 Uhr arbeiten und ihr Kind dann gleich abholen wollen, weil das schlechte Gewissen sie plagt: Gehen Sie doch erst noch in Ruhe einkaufen und kommen dann. Dann kann der Abend ruhig beginnen. Und Ihr Kind ist bei uns in guten Händen.“
Unterschiedliche Berufe
Das Konzept der Kita Flurweg geht jedenfalls auf: Aus 54 Berufen kommen die Eltern der 60 Spätkinder, hat Lüttschwager ermittelt: Ärztinnen gehören ebenso dazu wie Pfleger, Taxifahrer oder Callcenter-Mitarbeiterinnen. Sogar aus dem nahen Brandenburg kommen drei Kinder. Ihre Eltern müssen neben dem für alle Spätkinder obligatorischen Nachweis über den besonderen Betreuungsbedarf noch einen Nachweis über die Kostenübernahme durch das Land erbringen. Denn trotz immer flexiblerer Arbeitszeiten: Der Bedarf an später Betreuung ist bislang kaum gedeckt. Nur drei weitere Kitas mit längeren Öffnungszeiten weist eine Broschüre des Senats zum Thema Familienfreundlichkeit in Berlin aus. Die Warteliste der Kita am Flurweg werde „lang und länger“, sagt Kitaleiterin Lüttschwager: „Bis September 2013 sind wir ausgebucht.“
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Neue EU-Kommission
Es ist ein Skandal
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative