Experte zu Plan gegen Wohnungslosigkeit: „Wir brauchen viel mehr Prävention“
Der nationale Aktionsplan der Bundesregierung wird Obdachlosigkeit nicht überwinden, sagt Stefan Schneider von der Wohnungslosen-Stiftung.
taz: Herr Schneider, am Mittwoch wird im Kabinett der nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit beschlossen. In sechs Jahren soll niemand mehr ohne Wohnung sein. Ist das zynisch gegenüber Menschen, die aktuell auf der Straße leben?
Stefan Schneider: Ja, ist es. Aber das ist ein grundsätzliches Problem. Die Leute, die diesen Plan erarbeitet haben, haben in der Regel eine Wohnung und auch einen Job, und das bestimmt ihr Denken und ihre Wahrnehmung. Herausgekommen ist ein Papiertiger voller Absichtserklärungen. Ich habe schon letztes Jahr gesagt: Wenn der Aktionsplan gut werden soll, müssen da Sachen drinstehen, die jetzt und sofort für die Leute auf der Straße ein starkes Signal abgeben.
Der Sozialwissenschaftler und hat 2021 die Wohnungslosen_Stiftung gegründet. Die Stiftung setzt sich für die Selbstorganisation wohnungsloser Menschen ein.
Zum Beispiel?
Sofort Hotelgutscheine ausgeben für fünf Monate, an Menschen, die auf der Straße leben. Und in dieser Zeit wird eine Wohnung organisiert.
Diese Forderung hat es nicht in den Aktionsplan geschafft.
Das wundert mich nicht. Wäre der Arbeitskreis zur Hälfte mit Wohnungslosen besetzt, würde dieser nationale Aktionsplan völlig anders aussehen. Wir können doch die Pandemie als Blaupause sehen. Dort ist es in einzelnen Fällen gelungen, Leute von der Straße in Hotels zu bringen, und es ist gut dokumentiert, dass es vielen dann besser ging, weil sie nicht mehr überlegen mussten: Wo kann ich duschen, wo kann ich schlafen, wie kann ich essen, werde ich beschimpft? Die Menschen kamen raus aus dem Druck des täglichen Überlebenskampfs, haben angefangen zu überlegen, wie soll mein Leben aussehen? Nur so waren Veränderungsprozesse möglich.
Sie haben gemeinsam mit einer Gruppe von Wohnungslosen und ehemals Wohnungslosen eine Stellungnahme zum Aktionsplan erarbeitet.
Ja, bei zwei Treffen im Rahmen unserer Kräfte. In der Gruppe sind auch Leute dabei, die gucken müssen, wie sie überhaupt ins Internet kommen. Wir waren uns inhaltlich aber schnell einig: Wir brauchen viel mehr Prävention. Wenn man möchte, dass Obdachlosigkeit nicht weiter zunimmt, dürfte jemand nur dann zwangsgeräumt werden, wenn eine adäquate andere Wohnung zur Verfügung steht. Das passiert nicht. Die Städte sind voll mit Leuten, die in Notunterkünften untergebracht sind und die keine Perspektive haben, da wieder rauszukommen. Dabei müssten wir eigentlich Notunterkünfte ganz auflösen.
Warum?
Notunterkünfte, die in der Regel tagsüber verlassen werden müssen, sind kein Beitrag, um Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit zu überwinden. Es sind häufig Orte der Gewalt. Das betrifft bestimmte Gruppen, zum Beispiel Frauen oder schwule und lesbische Menschen, besonders stark.
Laut dem Aktionsplan sollen Empfehlungen zu Standards in Notunterkünften erarbeitet werden.
Das ist doch ein gutes Beispiel für unscharfe Laberei.
Finden Sie es falsch, über Mindeststandards zu sprechen?
Nein, das nicht. Denn aktuell sind diese zwangsgemeinschaftlichen Unterkünfte oft menschenunwürdig, deswegen brauchen wir Mindeststandards. Aber Notunterkünfte sind keine Lösung und auch kein sinnvolles Angebot. Wir brauchen vor allem bezahlbaren und verfügbaren Wohnraum.
Wie soll dieser geschaffen werden?
Anstatt wohnungslose Menschen zu zählen, könnten wir doch einfach mal anfangen, den Leerstand zu zählen, illegale Ferienwohnungen auflösen und ungenutzte Büroflächen in Wohnraum umbauen. Aber es geht nicht ohne einen grundsätzlichen Strukturwandel in der Wohnungswirtschaft. Wir brauchen einen viel größeren Anteil an Wohnungsbeständen, die nicht profitorientiert vermietet werden.
Es ist der erste bundesweite Plan dieser Art, haben Sie Hoffnung, dass sich in den nächsten sechs Jahren ein paar Sachen verbessern?
Das Problem ist: Dieser Plan versucht, Obdachlosigkeit weiter mit den bestehenden Mitteln zu regulieren. Damit können wir Obdachlosigkeit nicht überwinden. Aber zumindest können sich Netzwerke wie unseres die nächsten Jahre daran abarbeiten und dazu positionieren.
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