Experimentelle Demokratie: Berlin sucht die Superbürger
Das Kulturhaus Radialsystem lädt alle Berliner zur offenen Debatte - die Themen sollen sie selbst bestimmen. Das Experiment läuft parallel zum beginnenden Wahlkampf.
Von hier oben hat man einen freien Blick: links ein Hotel, gegenüber die Zentrale der Gewerkschaft Ver.di, rechts eine Strandbar, am Horizont das Rote Rathaus. Von hier oben, vom Deck des Kulturhauses Radialsystem IV, soll die Stadt nun verändert werden. Mit einem offenen Platz zum Austausch von Ideen. Drei Monate lang bis zur Abgeordnetenhauswahl am 18. September.
"Wir wollen die Passivität der Bürger vor der Berlin-Wahl überwinden", erklärt Jochen Sandig, einer der beiden Leiter des Hauses. "Berlin Agora" heißt das Projekt in Anlehnung an die Marktplätze im antiken Griechenland (siehe Kasten). Auf dem überdachten, an den Seiten offenen Deck soll es um die Zukunft Berlins gehen. Extremisten sind ausgeschlossen. Und parteiübergreifend sollen die Veranstaltungen sein. Ansonsten gibt es nur einer Hürde: Irgendjemand muss irgendeine Idee haben. Und den Mut, sich anzumelden. Solchen "Meisterbürgern" überlässt das Radialsystem dann kostenlos den Raum und übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit.
Wie das aussehen soll, zeigen die Initatoren am Montagabend bei der Pressekonferenz zur Eröffnung der Berlin Agora. Statt Podium gibt es einen Stuhlkreis. Kein "Hier wir, da die anderen". Jochen Sandig sitzt in der Runde. Die Projektleiterin Tina Gadow. Die Pressesprecherin Bettina Schuseil. Dazwischen ein paar Journalisten, die weniger fragen sollen, sondern gefragt werden, was sie von der schwärmerisch vorgestellten Projektidee halten.
Die klassische Agora: Im alten Griechenland, dem Ursprung aller Demokratien, war die Agora der zentrale Platz einer Stadt - für Märkte und Feste, aber auch für Versammlungen und Gerichtsverfahren. Die Agora gilt als Sinnbild für Öffentlichkeit und Debatte.
Die Berlin Agora: Das Radialsystem stellt bis Mitte September sein halboffenes Deck an der Holzmarktstraße 33 unweit des Ostbahnhofs zur Verfügung. Details und Anmeldungen unter: www.berlin-agora.de.
"Es geht um schräge Ideen, die sonst nur am Abendbrottisch diskutiert werden", erklärt Gadow. "Dieser Raum funktioniert, ganz egal ob da 20 oder 200 Leute kommen", erklärt Sandig. "Das ist ein Experiment", ergänzt Gadow. "Wir wissen nicht, was hier entsteht", so Schuseil, "ob es eine Bewegung wird oder nach wenigen Wochen vertröpfelt". Aber von Letzterem gehen die Macher nicht aus. Sandig schwärmt schon von einem "Parlament der Meisterbürger", das im Abgeordnetenhaus tagen könnte.
In Zeiten von Wutbürgern und Basisdemokratie hat das tatsächlich Charme, auch wenn sich das neue Engagement nicht so einfach auf das offene Deck transplantieren lassen wird. Schließlich regt sich der Wähler erst, wenn die Politiker nicht das tun, was er von ihnen erwartet. Hier aber soll er die Initiative ergreifen. Bisher gibt es erst eine Handvoll Anfragen. Drei Veranstaltungen sind terminiert. Bei der ersten wird es am 24. Juni - wenig überraschend - um die Zukunft der freien Kultur gehen. Einlader sind hier die Geschäftsführer des Radialsystems. Auch die zweite Runde hat ein naheliegendes Thema: die städtische Entwicklung der Köpenicker Straße, die man vom Deck aus sehen kann. Die dritte könnte dem Anspruch der Agora gerechter werden. Der Berliner Äthiopier Dawid Shanko will über Berlin als Stadt der Internationalität reden.
Am Montag hatte erst mal eine Gruppe von Schülern das Wort. Sie durften vortragen, was sie machen würden. Als Bürgermeister. Kinderrechte in der Verfassung, fordert ein Junge. Jede Familie soll jedes Jahr einen Baum pflanzen, schlägt ein Mädchen von. Und: Atomkraftwerke sofort abschalten. "Keine Idee ist so abstrus, dass man nicht ein paar Minuten über sie diskutieren sollet", sagt Sandig.
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