Exerzieren für die ferne Zukunft

Seitdem Russlands Präsident Putin sein patriotisches Erziehungsprogramm verkündete, haben die wiederbegründeten Kadettenanstalten Hochkonjunktur. Dort lernt der Nachwuchs neben militärischer Disziplin auch Gesellschaftstänze

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Alexej ist einen Kopf größer als seine Untergebenen. Der Dreizehnjährige steckt in einer dunkelblauen Uniform, seine Kameraden tragen einen schlichten Tarnanzug. Alexej hat sie auf dem Hof antreten lassen. Nur einer murrt, ihm sei es im Schatten zum Exerzieren zu kalt. Unerlaubt verlässt er den Pulk und sucht einen Platz an der Sonne. Gruppenführer Alexej denkt nach, schließlich entlässt er auch die anderen in die Wärme. Humane Menschenführung, statt lustvoller Erniedrigung – in Russlands Armee der Zukunft ?

Die kleinen Soldaten des „Kadetski Korpus“, der Kadettenanstalt Nummer 3, sind mit Leib und Seele dabei. Fast vierhundert Kinder besuchen die vor drei Jahren unter der Ägide der Moskauer Steuerpolizei gegründete Schule. Früher diente das Areal an der Moskwa im Zentrum als Waisenhaus. Kinder aus intakten Familien, meint die Direktorin Jelena Iwanowna, gehören mit einem Fünftel aller Schüler aber auch heute noch zu einer Minderheit. Vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Familien geben ihren Nachwuchs in die Obhut des Kadetski Korpus, Jugendliche, die die Kriege in Tschetschenien und Afghanistan zu Waisen oder Halbwaisen gemacht haben, stellen ein beträchtliches Kontingent. Sozialeinrichtung oder Eliteanstalt? Von beidem etwas, meint die Direktorin zögernd.

Kadettenschulen gab es in Russland schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, damals waren sie Sprösslingen des Adels vorbehalten. Neben Sprachen und Allgemeinbildung lernten die Schüler vor allem Etikette und Umgangsformen. Die bolschewistische Revolution 1917 räumte mit dieser elitären Extrabehandlung auf. Erst das nachbolschewistische Russland belebte die Tradition von neuem. Auch der Pate, die Steuerpolizei, wurde erst vor zehn Jahren gebildet. Das Image der Steuerfahnder hat wenig gemein mit der ritterlichen Vergangenheit der Kadetten. Bisher machte die Polizei durch martialische Einsätze von sich reden. Maske und Kalaschnikow sind ihre Insignien. Im Gegensatz zum Curriculum des Nachwuchses, für den Gesellschaftstanz zum Pflichtprogramm gehört.

Acht Kadettenanstalten gibt es in Moskau, drei weitere sind geplant. Seit Präsident Wladimir Putin 2001 Patriotismus und Wehrhaftigkeit zu Pflichtkursen an Schulen erhob, um das russische Selbstwertgefühl zu stärken, haben die militärischen Lehreinrichtungen Hochkonjunktur. Das Fach „Sicherheit im Leben“ wurde wie in Sowjetzeiten zu einem Wehrsportunterricht umfunktioniert. Das „Programm zur patriotischen Erziehung der Bürger“ sollte dem Verlust spiritueller Werte und dem Zynismus, Individualismus und der Verachtung des Staates entgegenwirken. Anders gesagt: den westlichen Einfluss eindämmen.

Der Plan entstand vor dem 11. September. Die kürzlich vorgelegte Zwischenbilanz fiel ernüchternd aus. Der Duma-Abgeordnete Pjotr Roganow stellte fest: „Rodina“ – die Heimat – müsste sich auch um Zuneigung bemühen, Liebe sei nichts Einseitiges. Man müsse sie nicht erkaufen, finanzieren aber schon. Daran hapert es, weder der Staat noch die von ihm in die Pflicht genommenen neuen Kapitalisten haben den versprochenen patriotischen Zehnt in vollem Umfang entrichtet.

Gleichwohl ist in weiten Teilen der Jugend Rückbesinnung auf eigene Werte wieder populär. Halbseidene Mafiabosse in Limousinen, für Jugendliche Mitte der 90er-Jahre noch Vorbilder, sind passé. An ihre Stelle traten zwar nicht gleich Steuerinspektoren, die Leitbilder seien aber ziviler geworden, meint der Vizedirektor, Nikolai Maximow, ein pensionierter Militär um die 50.

Musterschülerin Lisa, eines von den 50 Mädchen der Anstalt, hat sich selbst für die Kadettenausbildung entschieden. Sie hofft, über die Steuerpolizei Jura studieren zu können. Hier hätten die Lehrer mehr Zeit für ihre Schüler und stünden auch sonst zur Seite, meint sie. Ihre alten Freundinnen seien stolz, wenn sie in Uniform am Wochenende mit ihnen durchs Viertel flaniere. Lisas Lieblingsfach ist Geschichte, genauer: die Geschichte der russischen Monarchie.

Alexej, auch ein Vorzeigeschüler, zieht den Wehrunterricht vor. Auf die Frage, welche Filme er am liebsten sähe, antwortet er sofort: Russische, vaterländische! Nach einer kurzen Pause sagt er nachdenklich: „Aber nicht nur.“ Alles andere wäre wohl auch nicht aufrichtig. Der Renner sei Harry Potter, meint die Bibliothekarin, zumindest solange es noch kein russisches Pendant gäbe.

Auf dem Flur versammelt sich unterdessen eine Schulauswahl für einen Sport- und Wehrkunde-Wettbewerb in einem Zeltlager vor den Toren Moskaus. An Disziplin und Drill lässt der Major keine Zweifel aufkommen. Schon die Jüngsten beherzigen das. In der ersten Etage steht die Jungenriege aus Zimmer 5 vor dem Anschlag mit den Reinlichkeitsergebnissen. Sie haben den zweiten Platz belegt. Erziehung zur Hygiene ist Teil der patriotischen Schulung.

Wünschenswert wäre, so die Pädagogen augenzwinkernd, wenn die Steuerpolizei außer ihrem Namen und gutem Ruf auch sonst noch etwas zur Verfügung stellen würde …