Ex-Kulturstaatsminister kritisiert Bachelor: "Salto rückwärts in die Oberstufe"

Die Einführung des Bachelor in Deutschland ist eine Schmalspur-Offensive - sagt der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin. Immerhin: Es gebe noch Spielraum.

Die Studenten nehmen das Studium wieder ernster - sagt Nida-Rümelin. Bild: dpa

taz: Herr Nida-Rümelin, Wilhelm von Humboldt war der Überzeugung, der Staat solle alle Bildungseinrichtungen finanzieren. Und er solle sich inhaltlich raushalten. Ist das noch eine realistische Position angesichts der finanziellen Situation?

Julian Nida-Rümelin: Ja. Ich halte das für sehr realistisch, da wir keine Alternativen haben in Deutschland.

Studiengebühren wären doch eine Alternative.

Nein. Die eigentliche Alternative ist historisch verpasst worden. Ich spreche von den großen Neugründungen von Privatuniversitäten Ende des 19. Jahrhunderts in den USA. Diese sind in einer extrem günstigen Situation der Kapitalakkumulation erfolgt. Mit Summen, die in Milliardenhöhe gehen, wenn man das heute umrechnet. Das ist nicht mehr nachholbar.

Also doch Studiengebühren?

Nein. (lacht) Aber: Ich habe nichts gegen die 500 Euro pro Semester, wenn es denn dabei bleibt.

Warum? Sie decken die Kosten für einen Studienplatz nur zu einem minimalen Prozentsatz.

Ja, das stimmt, aber das Studium wird jetzt ernster genommen. Viele, die nur pro forma studiert haben, sind jetzt nicht mehr immatrikuliert.

Auf der Positivseite also nur die Abschreckung der Langzeitstudierenden?

Es gibt zweifellos einen positiven Anfangseffekt: Es ist zusätzliches Geld ins System gekommen. Dieses Geld ist gebunden an die Lehre und die Interessen der Studierenden.

Wie zum Beispiel?

Bei uns, an der Uni München, etwa für die Verlängerung von Bibliothekszeiten, Studienberatung, sogenannte Lecturer-Stellen, die ausschließlich zur Verbesserung der Lehre gedacht sind.

Also Geld für Notpflaster im kleinen Maßstab.

Angesichts der extremen Finanznot bedeuten die 70 oder 80 Prozent der Studiengebühren, die nun in den Instituten ankommen, manchmal eine Verdoppelung des Etats.

Der Verwaltungsaufwand, um die Studiengebühren einzuziehen, frisst die Einnahmen also nicht komplett auf?

Nein, offenkundig nicht. Bei uns ist das Gros angekommen.

Studien zeigen, dass überwiegend Leute aus der Mittelschicht studieren.

Ja, das stimmt. Der Anteil aus Arbeiterfamilien ist seit Anfang der 80er-Jahre dramatisch gesunken.

Seit wann ist der Zugang zum Studium wieder zum Nadelöhr geworden?

Im Rahmen der Bildungsexpansion in den 60er- und 70er-Jahren wurden die "Klassenschranken" vorübergehend weitgehend abgebaut. Der Anteil von Studierenden aus Arbeiterhaushalten hat sich in diesem Zeitraum verdreifacht und stieg auf knapp 20 Prozent. Mit Übernahme der Regierung von Helmut Kohl 1982 - ob nun zufällig oder nicht zufällig - ist dieser Anteil kontinuierlich abgesunken.

Warum?

Ein Rolle spielt dabei, dass das Bafög auf Darlehen umgestellt wurde. Das hat die Ärmeren abgeschreckt. Was aber komischerweise fast nie diskutiert wird: In einer Phase der Bildungsexpansion und des realen Wirtschaftswachstums können Teile der Bevölkerung aufsteigen, ohne dass andere deswegen zwangsläufig absteigen.Wenn die Bildungsexpansion dann aber gestoppt wird, hieße Erhöhung des Anteils der Kinder aus der Arbeiterschicht zwangsläufig eine Verringerung des Anteils aus anderen Schichten.

Die Folge ist Klassenkampf?

Zumindest korrespondiert dann jeder Bildungs-Aufsteiger mit einem Bildungs-Absteiger.

Was halten Sie von dem Argument: Wenn vor allem die Mittelschichten vom Bildungssystem profitieren, sollen sie auch Gebühren dafür bezahlen?

Wenn man die gesamte Bevölkerung in Quintile (20-Prozent-Gruppen nach Einkommen pro Haushalt, Anm. d. Red.) einteilt und dabei jeweils den Anteil an Steueraufkommen berechnet und diesem Betrag dann gegenüberstellt, wie viel an Bildungkosten beansprucht wird, dann kommt überraschenderweise heraus: Die Arbeiterhaushalte finanzieren nicht das Studium der Mittelschichtskinder. Das Verhältnis Steueraufkommen und Bildungskonsum fällt ziemlich proportional aus. In anderen Worten: Der höhere Anteil, den Mittel- und Oberschichten in den Universitäten ausmachen, entspricht in etwa ihren höheren Steuerabgaben.

Sie sagen, die Einführung der Bachelor-Studiengänge führt zu einem radikalen Absinken der Ausbildungsqualität.

Zugespitzt könnte man von einer allgemeinen Dequalifizierungsoffensive sprechen. Die Meisterprüfung wurde abgewertet, die Gesellenprüfung, der Studienabschluss. An den Unis kann heute mit einer viel, viel geringeren Qualifikation unterrichtet und geprüft werden.

Stehen Sie angesichts der flächendeckend durchgezogenen Einführung der Bachelorstudiengänge mit Ihrer Kritik nicht isoliert da?

Im Gegenteil. Praktisch alle, die vor fünf Jahren noch optimistisch waren, sagen heute: Das ist eine Katastrophe. Vor allem die unter 45-Jährigen waren für die Umstellung auf moderne modularisierte Studiengänge. Die sagen jetzt: Was jetzt hier rauskommt, ist ja der reine Schulbetrieb. Dann hätte ich auch Gymnasiallehrer werden können.

Wenn die Nachteile so klar auf der Hand liegen, warum konnten die Umstrukturierungen nicht verhindert werden?

Anfangs waren die Ideen ja sehr vernünftig: Man wollte die Zusammenarbeit der europäischen Hochschulen stärken, mehr Mobilität schaffen, international konkurrenzfähiger werden. Dann ist aber der Fehler gemacht worden, dass man zu sehr auf die USA geschielt und die Besonderheiten des europäischen Systems zu wenig berücksichtigt hat. Und zugleich das Positive aus dem amerikanischen Modell nicht übernommen hat.

Was zum Beispiel?

Die Bachelors dort sind viel breiter angelegt, deutlich bildungsorientierter, mit vielen Wahlmöglichkeiten. Bei uns aber hat man Schmalspurstudiengänge mit einem extrem hohen Umfang an Präsenzzeiten eingerichtet: Während des Semesters zwischen 30 und 50 Wochenstunden. Diese Studierenden können sich also nicht mehr stundenlang in die Bibliothek setzten. Sie können gar keine Bücher mehr lesen, sondern brauchen stattdessen nur kleine vorgekaute Häppchen, kopiert, als PDF-Datei herunterzuladen.

Und sie können nebenbei auch kein Geld mehr verdienen.

Auch das. Ich fand es immer gut, dass Studierende neben ihrem Studium jobben. Das fördert die Persönlichkeitsentwicklung und erleichtert den späteren Berufseinstieg.

Was ist sonst noch falsch gelaufen?

Man hat die Unterschiede der Fächerkulturen nicht ausreichend berücksichtigt.

Das heißt was?

Ich habe ja selber Physik und Philosophie studiert. In der Physik kann man prima verschulen, da muss man nicht in der Bibliothek sitzen und schmökern. Aber in der Philosophie ist es das A und O. Da sind Seminare und Vorlesungen lange nicht so wichtig wie das Selbststudium.

Aber das mit dem Selbststudium hat ja häufig nicht geklappt. Man war früher frei, aber auch verloren.

Ich habe es sehr genossen, mir selber überlegen zu müssen, was mir im Studium wichtig ist. Aber ein Gutteil der Studierenden war damit überfordert. Die Professoren haben auf die Überlastung reagiert, indem sie die Kontakte mit den Studierenden auf ein Minimum reduziert haben. Was wir jetzt machen, ist ein Salto rückwärts in eine gigantische gymnasiale Oberstufe.

Was ist die Perspektive?

Was die Bachelors angeht: Es gibt Spielräume. In Richtung mehr Bildung und weniger Ausbildung - nach amerikanischem Vorbild, bitte schön! Zweitens muss spätestens in den Masterstudiengängen wieder die Einheit von Forschung und Lehre, die akademische Freiheit der Wahl von Inhalten und Methoden für Studierende und Lehrende gelten.

Bedeutet am Bildungsideal von Humboldt festzuhalten, nicht die Zeit zurückdrehen zu wollen?

Humboldt ist natürlich vor allem eine Provokation. Aber hinter seine zentralen Postulate kann man nicht zurückgehen. Und die sind: Einheit von Lehre und Forschung. Die Freiheit von politischer und ökonomischer Einflussnahme ist zentral. Das Wichtigste ist vielleicht die Motivation der Lehrenden: Forscher machen den Job nicht, um da und dort ein paar hundert Euro mehr zu verdienen. Sondern sie haben diesen Beruf gewählt, weil er ihnen erlaubt, überwiegend selber zu bestimmen, womit sie sich beschäftigen wollen.

Wie lange werden wir brauchen, um das alles wieder auszubügeln?

Das wird schon fünf Jahre dauern, bis die gröbsten Anfängerfehler korrigiert sind.

Ist mit einer Politisierung an den Hochschulen zu rechnen?

Die Studierenden, die jetzt oder demnächst betroffen sind, die kennen den Schulbetrieb, aber nicht das alte System.Wenn das neue System auf die vorherigen Generationen von Studierenden angewendet worden wäre, hätten wir sicher eine massive Politisierung erlebt.

Und die Hochschullehrer?

Da wird sich bei den ehemals Hoffnungsfrohen vielleicht Ernüchterung einstellen. Aber Politisierung, das glaube ich nicht. Man hört bei dem einen oder anderen weniger stabilen Kollegen von einer gewissen Verzweiflung angesichts der veränderten Bedingungen.

INTERVIEW: INES KAPPERT

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