„Everything is cake“-Memes gehen viral: Eine Donauwelle des Internethumors
Seit Wochen ist das Internet voller Kuchen: als Text, als Bild, als Video. Eine Annäherung an ein surrealistisches Meme-Phänomen.
Zunächst einmal ist da die technische Brillanz. Ein Mann füllt ein Glas mit Wasser, greift zum Messer, setzt an, zerschneidet das Glas. Es ist: ein Kuchen. Crocs, Messer im Anschlag, Kuchen. Seife, Messer, Kuchen. Aubergine, Chipstüte, Kokosnuss, Klopapierrolle – alles Kuchen. Ein Messer am Arm, ein Schnitt: ein Kuchen. Nichts ist, was es zu sein scheint, alles ist Kuchen.
Ein Meme macht die Runde, so viral, wie es nur geht, bizarr, lustig, verstörend bisweilen, völlig abgedreht und vor allem gänzlich unverständlich für Außenstehende. Wobei es nicht viel bedarf, um drinnen zu sein. Einfach den Kuchen nehmen, wie er kommt. Und er kommt überall. Als Text, als Bild, als Video, dazu in unzähligen Sprachen wird seit Wochen Backwerk zu einem Grundrauschen in den sozialen Medien.
Nichts und niemand ist davor sicher. Von anarchischem Geblödel bis zu aalglattem Marketing ist alles dabei. Eine Donauwelle des Internethumors in der dem Medium typischen Gleichzeitigkeit hermetischer Abgeschlossenheit und demokratischer Offenheit. Alle können mitbacken, wenn sie es denn gebacken kriegen.
Die Frage, was das alles soll, ist falsch gestellt, wie bei jedem dieser Phänomene. Denn ein Meme will überhaupt nichts. Es bewegt sich als zumeist visuelle Manifestation eines breit verankerten Bewusstseinsinhalts, häufig handelt es sich um popkulturelle Partikel, durchs Netz, verbreitet sich im günstigsten Falle durch Variationen immer weiter. Es kann ein kurzer Hype sein oder ein langlebiges, immer wieder abrufbares und an neue Situationen anpassungsfähiges Bild.
Nur wenige Sekunden lange Gifs überleben auf Facebook oder Twitter jahrelang als wiederverwendbare Kommentare, deren Bedeutungstiefe weit genug hinabreicht, um der beliebigen Betrachter*in einen anschlussfähigen Assoziationsraum zu eröffnen. Manchmal sind die Memes einfach nur eine Idee, ein Aufleuchten, das Kreativität weckt, die Lust am Spielen – oder im vorliegenden Fall: am Backen.
Die illusorische Funktion
Herauszufinden, warum ausgerechnet das Kuchenmeme so eine große Verbreitung findet, ist mehr amüsantes Ratespiel als präzise Wissenschaft. Ein Grund für den Erfolg mag die eher selten bewusste, aber dennoch enge Verbindung zu bekannten Ideen und visuellen Archetypen sein, die jeweils viel älter als das Internet sind. Die Frage nach dem tatsächlichen Charakter der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt beispielsweise beschäftigt Menschen von Anbeginn. Dass die als weitestgehend unveränderlich wahrgenommene Lebensrealität von einem Tag auf den anderen grundlegend umgestoßen werden kann, gehört schon immer zum menschlichen Erfahrungsschatz.
Selbst wer in welthistorisch ruhigen Zeiten lebt, wird spätestens mit dem Fakt des Todes als unumgänglichem Begleiter des Lebens konfrontiert und so mit mindestens dieser dramatischen Möglichkeit der Veränderung umgehen lernen müssen. Jede Sicherheit kann so als illusorische Funktion erkannt werden. Ein gegebenenfalls überraschender Kuchen, wenn man so will. Ein Schnitt und alles ist anders. Und dieses unfassbare Jahr 2020 mit seinen politischen und epidemiologischen Verwerfungen ist für die ganze Welt voller solcher überraschender und aus der Alltagsperspektive heraus vorher undenkbarer Schnitte, nicht jeder davon ein angenehmer.
Das Bild der körperlichen Konsumption aller möglichen und unmöglichen Objekte und deren plötzlicher Wandel von einem Alltagsgegenstand zu einem Lebensmittel schließlich ist spätestens mit den Surrealisten ins Bildgedächtnis der Menschheit eingegraben. Hunger als Urtrieb ist so universell verständlich, dass jegliches Verlangen, jede Not, jede Lust sich darin zumindest in Gedanken übersetzen lässt. Und was denkbar ist, lässt sich abbilden, seit 125 Jahren auch in Bewegung.
Die zeitgenössischen Meme-Produzent*innen sind dabei nicht die Ersten, denen es gelingt, den an sich blanken Horror, den der Verzehr eines Menschen auslösen sollte, mit dem Humor der überraschenden Bildsprache zu verbinden. Der tschechische Regisseur Jan Švankmajer trug sich seit den 1970ern mit der Idee zu einem Episodenfilm: „Das kleine Fressen“. Umsetzen konnte er das Werk wegen des herausfordernden politisch kritischen Untertons erst 1992, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Der Wolf und der Kuchen
In einer der in Stopp-Motion gedrehten Episoden beginnen zwei Restaurantgäste, die vergeblich nach dem Kellner rufen, unvermittelt, zuerst die Blumen auf dem Tisch zu essen, dann ihre Teller, Servietten und Tischtuch, schließlich den Tisch und die Stühle. Nachdem sie jeweils ihre Kleidung verzehrt haben, wird das Machtgefälle ihres Verhältnisses offenbar: Der eine macht sich daran, den anderen zu essen. Wenn alles und alle ihre Hüllen und der oberflächlich zugewiesenen Funktion entledigt sind, bleibt brutale Substanz. Gewalt und Ausgeliefertheit. Während der eine Mensch des anderen Wolf ist, muss der andere, nun ja, des einen Kuchen sein.
Jede einzelne der Szenen Švankmajers würde, von der inzwischen archaisch anmutenden Technik abgesehen, als Teil des Kuchenmemes perfekt funktionieren. Ihre sorgfältig komponierte Abfolge jedoch zeigt, dass die Techniken der surrealistisch inspirierten Filmkunst sich mit der allgemeinen Zugänglichkeit der Produktionsmittel, wie Handykameras und digitaler Bildbearbeitung demokratisiert haben mögen. Ihre Ideen und die erzählerische Tiefe aber haben den elitären Charakter nicht verloren.
Allgemein verfügbares Kunsthandwerk, wie die kurzen Netzvideos, kann seine Wurzeln so vielleicht vergessen, aber trotzdem nicht verleugnen. Denn die Unumgänglichkeit der allumfassenden Umdeutung zum Kuchen hat eine anarchische Energie, an der vielleicht auch ein surrealistischer Regisseur wie Luis Buñuel seine Freude hätte haben können.
Denn so wie noch hochkommerzielle Disneycomics eine leise Spur der zugrunde liegenden Volksmärchen enthalten, in denen wiederum ein leises Echo bis zurück zu antiken Mythen zu vernehmen ist, steckt in jedem kleinen Kuchenfilmchen ein Hauch von Buñuels und Dalís „Andalusischem Hund“ oder eben Švankmajers „Fressen“. Und jede Menge Spaß, sofern man sich darauf einlassen will. Aber das ist am Ende ja immer so, egal, ob das Leben Schwarzwälder Kirschtorte oder Bienenstich bereithält. In jedem Falle: Kuchen!
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