Eurovisão am Tejo, Folge 4: Sein Style suggeriert Antiglamour
Michael Schulte tritt für Deutschland beim ESC an. „You Let Me Walk Alone“ ist weit mehr als Gefühlspop. Der Song birgt eine persönliche Story.
Das wiederum müsste sich Michael Schulte auch gar nicht gefallen lassen. Der junge Mann, aufgewachsen nahe Flensburg, jetzt lebend in Buxtehude bei Hamburg, ist ja längst ein Star, er hat sich seine Fanbase via Facebook aufgebaut, eine in die siebenstellige Zahl gehende.
Schulte gilt, zum Entzücken seiner Fans, als ausgesprochen autonomiebewusst, er lässt sich die Karten nicht aus der Hand nehmen. Sein Style suggeriert Antiglamour, er sieht aus wie junge Männer alle aussehen, die hipsterische Örtlichkeiten aufsuchen, Cafés und Restaurants. Hier in Lissabon macht er alles mit, was promotionell einfach zu tun ist – etwa eine Stadtrundfahrt, bei denen Medienleute mitfahren dürfen. Ruhig, bar aller aufgetriedelten Aufgeregtheit absolviert er den Parcours, lässt sich fotografieren und befragen, mal an einer alten Straßenbahn, dann wieder am Turm von Belem – dort singt er, sich selbst auf der Gitarre begleitend, seinen Titel „You Let Me Walk Alone“ unplugged, was sehr schön klingt.
Dieser Mann markiert, noch stärker als die einstigen deutschen ESC-Stars wie Max Mutzke (2004) und Roman Lob (2012), dass er die Showwelt mit ihren Aspekten der Überschminktheit nicht so recht mag. Er sieht aus wie „the young man next door“: charmant und doch früh erwachsen. Und niemals, so scheint es, gefallen wollend. Und er ist, in männlicher Hinsicht, sozusagen das Gegenstück zu allen unappetitlichen Bildern, die mit der #metoo-Debatte vom Mann an sich evoziert werden – was angenehm wirkt.
Sein Lied, eine im eurovisionären Liederangebot von Lissabon emotionale Geschichte, erzählt vom Verlust des Vaters, den er vermisse und den er doch gebraucht hätte auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Michael Schulte hat dieses Lied im Januar für den ESC-Vorentscheid geschrieben, seelisch lag das nahe, seit Dezember weiß er, dass er selbst Vater wird. Eigentlich wollte er sein Lied, das in der Tat jede Authentizitätsprüfung locker übersteht, nicht beim ESC singen – der NDR hat ihm freundlich geraten, nicht zurückzuschrecken. Gut so!, „You Let Me Walk Alone“ ist weit mehr, als sei's aus der Gefühlspopfabrik edsheeranesker Art, es birgt wirklich eine persönliche Story.
P.S.: Samstag abend, Cineteatro Capitólio, im Herzen des Theaterviertels, zog sich eine 300 Meter lange Schlange aus Menschen hin, auf Einlass hoffend: Israel bat zur ESC-Party. Netta Barzilai, so schwärmten viele hernach, war in Hochform – quietschig ihr Lied „Toy“ darbietend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Die Wahrheit
Der erste Schnee