■ Europas Staatskanzleien werden rosa-rot. Daß die Sozialdemokraten keine Konzepte hätten, ist ein Vorurteil: Eine Prise Planstaat
Es gibt einen antisozialdemokratischen Affekt. Darüber sollten die rosa-roten Wahlsiege in Großbritannien und Frankreich nicht hinwegtäuschen. Da heißt es aus der Perspektive des konservativ- liberalen Einheitsdenkens, den Sozialdemokraten bleibe ohnehin keine andere Wahl, als den Sachzwängen der ökonomischen Realität und dem Diktat des Maastricht- Vertrages zu gehorchen; andererseits schalt man sie, sie weigerten sich, „die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen“ (Helmut Kohl). Mal heißt es – im europäischen Kontext – sie seien unmodern (Jospin!), dann wieder, sie seien derart trendy, daß sie in Wahrheit längst neoliberal geworden seien (Blair!). Einmal heißt es, sie hätten keine Konzepte, dann wieder, sie verfügten über so viele, einander widerstreitende, daß sie nie und nimmer eine gemeinsame Sprache finden könnten.
Die Linke ist nicht davor gefeit, selbst in diesen Argumentationsmodus zu verfallen. So vertrat Claus Koch an dieser Stelle zwar unlängst die Auffassung, angesichts der Wahlsiege von New Labour und der Parti Socialiste bestünde Anlaß zur Zuversicht, doch mehr als ein „Linksgerücht“ kann auch er nicht vernehmen. Denn „eine politische Perspektive“ hätten die europäischen Sozialdemokraten, ja die gesamte kontinentale Linke nicht.
Nun sollte selbst ein solcher Sachverhalt ja schon aufregend, geradezu beflügelnd sein: Ohne ein Konzept zu haben, stellen Sozialdemokraten in neun der fünfzehn EU-Staaten den Regierungschef. Schreit dieses Mißverhältnis von Gestaltungsmöglichkeit und Ideen nicht nach linker Intervention, die mehr wäre als bloßes affektgeladenes Abwinken?
Wenngleich es keine wirklich elektrisierende Neuigkeit ist, daß es an dem „großen Wurf“, an dem einen Masterplan, fehlt, der eine neue Gesellschaft beschriebe, so heißt das noch lange nicht, daß es auf seiten der demokratischen Linken, sei sie sozialdemokratisch oder unabhängig, keinerlei Konzepte gäbe, wie der neoliberalen Dominanz in Europa begegnet werden könnte. Im Gegenteil: Über einige, sehr konkrete Maßnahmen herrscht ein überraschend breiter Konsens, der deutsche Sozialdemokraten, italienische Postkommunisten, Grüne, neokeynesianische Ökonomen und Gewerkschaftler ebenso umfaßt wie die Frankreich regierende PS und wohl auch New Labour. Es kommt nun darauf an, sie durchzusetzen.
Wovon ist die Rede?
Erstens: Daß das reine Marktmodell in Europa, nach Einführung der gemeinsamen Währung bloß noch von einer dem Monetarismus verpflichteten Europäischen Zentralbank (EZB) gesteuert, von einer gemeinsam koordinierten Wirtschafts- und Sozialpolitik in die Pflicht genommen werden muß, ist weitgehender Common sense. Frankreichs Sozialdemokraten nennen eine solche EU- Koordinierung pathetisch „Europäische Wirtschaftsregierung“, und dieses Konzept liefert den Grundton zu den gegenwärtigen bizarren Streitereien um „Beschäftigungsprotokolle“ und „Beschäftigungskapitel“ in diversen EU- Verträgen. Ein Streit, in dem übrigens alle europäischen Sozialdemokratien gegen die deutsche Bundesregierung (und die Bundesbank) stehen. Solche Maßnahmen würden nun freilich keine Wunder, doch kleine Koordinationserfolge bewirken, vor allem aber eine Trendumkehr in der Sphäre des Symbolischen. Die mittel- und langfristige materielle Wirksamkeit symbolischer Politik sollten gerade Linke nicht unterschätzen.
Zweitens: Europäische wirtschaftspolitische Koordination erfordert, so hört man dieser Tage aus allen sozialdemokratisch geführten Staatskanzleien (und Parteibaracken), europäische Steuerharmonisierung, um das innereuropäische Steuerdumping zugunsten von Kapitalbesitz einzudämmen. Dasselbe gilt für die Subventionsharmonisierung, also die innereuropäische Standortkonkurrenz um Unternehmensansiedlungen, die im schlimmsten Fall auf Betriebsabsiedlung via Subventionen hinausläuft.
Drittens: Weil sich die Verletzbarkeit nationaler Wirtschafts- und Finanzpolitik durch kurzfristige Währungs- und Anlagespekulationen in den vergangenen Jahren drastisch erwiesen hat und der Spielraum jeder staatlichen Politik beim gegenwärtigen Gang der Dinge gegen Null tendiert, gilt eine internationale Kapitalverkehrssteuer als unbedingtes Muß zur Wiedererlangung des Primats der Politik über die Märkte. Eine solche Steuer würde globale Spekulationen auf Kursschwankungen im 0,1-Prozent-Bereich diskriminieren und im Umkehrschluß Produktivinvestitionen begünstigen.
Viertens: Die vorwöchige Bundestagsdebatte und der Streit zwischen den Regierungen Jospin und Kohl machen klar, daß sich – nach anfänglicher Maastrichter Kriteriendogmatik (vor allem in den Reihen der SPD) – die Haltung durchsetzt, öffentliche Investitionen wären, in alter keynesianischer Manier, von Nutzen. Bloß sind diese Vorteile nicht mehr innerhalb des Nationalstaates zu realisieren, da die Nachfragestimulierung nicht zuletzt auf Importe aus dem Ausland durchschlägt. Innerhalb des relativ geschlossenen europäischen Binnenmarktes wäre solches aber sehr wohl zu koordinieren und wurde, etwa in Form der Transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN), von den Euro-Sozialdemokraten auch immer forciert. Daß dieses Projekt (immerhin das einzige aus dem Brüsseler Budget gespeiste Beschäftigungsprogramm) heute de facto tot ist, hat ganz praktische Gründe: Bonn hat im vergangenen Herbst die nötige Zusatzfinanzierung blockiert – dies mit Beifall von Teilen der deutschen Linken, die aus ökologischen und verkehrstheoretischen Gründen den TENs skeptisch gegenüberstehen.
Diese Skizze verdeutlicht, wohin die sozialdemokratische Reise geht: Richtung Re-Regulierung statt Deregulierung, Re-Regulierung auf supranationaler Ebene. Die Linke jenseits der Sozialdemokraten kann einwenden, diese Konzepte griffen zu kurz; auch, daß dies noch keinen „Weg zum Sozialismus“ beschreibt, sondern allenfalls eine Re-Etablierung des alten keynesianischen „Planstaates“ und seines prinzipiellen Ziels „Vollbeschäftigung“. All diese Einwände sind berechtigt, doch ist ebensowenig wahr, daß sich die Fronten in dem europäischen Streit längst „jenseits von links und rechts“ bewegten, wie, daß die Sozialdemokraten heute über keine Perspektive mehr verfügten. Wer so argumentiert, sollte uns verraten, wann denn zuletzt von den Sozialdemokraten mehr zu erwarten gewesen ist. Robert Misik
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