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Europas Schuld an der Sprachlosigkeit zweier BrüderWeder Athener noch Grieche

Zu Hause bei Fremden

von Miguel Szymanski

Nach dem Mittagessen, diese Woche in Berlin, werden mein älterer Bruder und ich uns nach einem langen Streit hoffentlich wieder vertragen haben. Wegen der deutschen EU- und Krisenpolitik reden wir seit einem Jahr nicht mehr miteinander. Wir haben eine portugiesische Mutter und einen deutschen Vater, aber mein Bruder ist immer hier geblieben. Ich war die letzten 25 Jahre in Lissabon. Er ist der Deutsche, ich bin der Portugiese.

Mein Bruder ist vor Jahren als Finanzvorstand eines börsennotierten Unternehmens in die deutsche Hauptstadt gezogen. Ich komme für 24 Stunden nach Berlin, wegen eines Dokumentarfilmprojekts über die Krise. Wir stehen auf verschiedenen Seiten der Barrikade.

In Portugal herrscht Kriegsstimmung gegen die deutsche Politik, aber die deutsche Regierung besteht darauf, sich in die Politik des Südens einzumischen, zu warnen und zu drohen: Passt nur auf, sonst wird es brenzlig für euch. Standpunkte und Argumente werden auf diesem Schlachtfeld schnell zu Waffen, die beleidigen und verletzen. Auch zwischen Brüdern.

Vor auf die Woche genau einem Jahr schrieb ich in einem offenen Brief an den Bundesfinanzminister, dass ich nicht an einem Presse-Event mit ihm in Berlin teilnehmen würde, weil die Politik, die er meinem Land diktiert, in fünf Jahren eine halbe Million Portugiesen zum Auswandern gezwungen und Hunderttausende Familien in den Ruin getrieben hat. Mein Bruder hielt mir vor, ich klage einen guten Politiker zu Unrecht an, der nur die Interessen des deutschen Steuerzahlers und Deutschlands schütze, also auch meine. Was ja seine Aufgabe als Finanzminister sei. Der Streit eskalierte kurz, bis die Kommunikation abbrach. Seitdem haben wir uns nicht mehr getroffen.

Inzwischen bin ich seit Monaten wieder in Lissabon, und die Distanz nährt meine Toleranz gegenüber Deutschland. Vielleicht deswegen habe ich meinem Bruder vorgeschlagen, das Kriegsbeil während meines kurzen Berlinbesuchs zu begraben. Wir sind Geschwister, nicht Portugiesen oder Deutsche, oder?

Nichts ist dem Südländer in mir wichtiger als die Familie. Und meine Familie ist europäisch: Meine deutsche Großmutter erlebte zwei Weltkriege mit aller Wucht. „Einen dritten will ich nicht”, sagte sie mir. Mein Großvater, ein Österreicher polnischer Abstammung, arbeitete jahrelang als Arzt, vor allem mit der Knochensäge in Militärkrankenhäusern. Europa hat schon Schlimmeres durchgemacht als die kurzsichtige Finanzkrisenpolitik der teutonischen Dampfwalze.

Noch in der Generation meiner Großeltern formierte sich Westeuropa als Industrieverband für Kohle und Stahl, fing an, Autos, Maschinen und Waffen zu exportieren. Im Zeitraffer ging der Schuss in den letzten Monaten nach hinten los: Die Opfer der mit diesen Waffen geführten Kriege, Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan, ­Syrien oder Afrika, drängen nach Europa.

Und was macht der Industrieverband? Was machen die Brüssel-Bürokraten? Sie rechnen aus, wie viel Stacheldraht notwendig ist, um Europas Grenzen zu sichern, und wie man am besten verhindert, dass Flüchtlingsboote an Europas Küsten stranden. Dieses Drama relativiert und reduziert die Leiden der Menschen in Portugal oder ­Spanien auf mediale Irrelevanz.

Statt zu den Menschenrechten zu stehen, entdecken die Enkelkinder von Salazar, Franco, Mussolini und Hitler einen externen Feind und wollen Bulldozer oder Waffen gegen die Flüchtlinge einsetzen. Portugiese, Pole, Spanier oder Deutscher, das sollte keine Rolle spielen. Patriotischer oder christlicher Europäer ist zu viel beziehungsweise zu wenig. Um einen griechischen Starintellektuellen zu zitieren, der nie in Berlin war, weil Berlin zu seiner Zeit zwar schon ein Sumpf war, aber noch unbewohnt: ­„Weder Athener noch Grieche, sondern Bürger der Welt“ müssen wir sein.

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