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Europa in der CoronapandemieWenn der Vorhang fällt

Kulturschaffende aus Zagreb, Belgrad und Ljubljana befürchten, dass Corona die Kultur aus ihrem Leben verdrängt. Sie fühlen sich ungerecht behandelt.

Das Coronavirus belastet viele Kulturschaffende: umgebaute Sitzreihen im Berliner Ensemble Foto: Florian Gärtner/imago

Am Vorabend der Parlamentswahlen in Kroatien kam ich von Berlin nach Zagreb. Vor der Abreise hatte ich an Freunde aus dem ehemaligen Jugoslawien Briefe gesendet, mit denen ich sie zu einem virtuellen Abendessen einlud, das ich für das künstlerische Projekt „Europaküche“ in Marseille vorbereite.

Als meine virtuellen Gäste wählte ich absichtlich jene, die aus den Ländern vom europäischen Rand kommen, vom unteren Ende der ökonomischen Hierarchie, Menschen, die Sprachen sprechen, die sonst kaum jemand spricht, und die sich auf Erfahrungen berufen, die kaum jemand versteht. Hier werde ich nur einige mit Vornamen erwähnen: Goran aus Zagreb, Petra aus Ljubljana, Siniša aus Belgrad.

Bild: Maja Bosnić
Ivana Sajko

geb. 1975 in Zagreb. Schriftstellerin, Dramaturgin, Theaterregisseurin. Ihr Essay entstand für die „Europaküche“, ein Projekt, das das Goethe-Institut während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit Förderung des Auswärtigen Amts in elf europäischen Ländern bis Dezember 2020 realisiert. Für die „Europaküche“ inszeniert Sajko ein Theaterstück in Marseille, digitale Premiere am 15. 11. Infos unter: www.goethe.de/europakueche

In den Briefen hatte ich ihnen einige Fragen gestellt, unter anderem fragte ich sie, wie sie die Symptome der aktuell überall gegenwärtigen Krankheit lesen, was ihrer Meinung nach mit dem Organismus Europas vor sich geht, da die Pandemie auch andere akute Zustände an die Oberfläche befördert. Die Antwort aus Zagreb kam als erste.

Goran schrieb mir, dass er über Europa überhaupt nicht nachdenke, da es sich für ihn, das heißt für uns, immer anderswo befand, irgendwo jenseits der Grenze: „Würde ich meine eigene Idee von Europa in eine Metapher übersetzen, dann wäre Europa wie ein Wohnblock voller smarter Wohnungen für Reiche. Du kannst an ihnen vorbeigehen. Du kannst auch für einen Augenblick hi­neingehen. Aber das ist auch alles. Am liebsten würde ich Europa in Minuskelschrift schreiben: europa. Würde europa mit uns am Tisch sitzen, würde ich mich kein einziges Mal an diesen Gast wenden.“

Eine Antwort aus Ljubljana

Danach kam die Antwort aus Ljubljana. Petra betonte, dass der Beginn der Pandemie in Slowenien zeitlich mit der Regierungsübernahme durch eine rechte Koalition zusammenfiel. Diese nutzte die Hy­gienemaßnahmen, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Seit Ende April protestieren die Slowenen jeden Freitag, bei ihren Demos fahren sie auf Fahrrädern und Rollern durch die Stadt, sie versuchen, neue Formen der öffentlichen Versammlung zu entwickeln, um immer rigidere Verbote zu umgehen.

Sie schrieb mir, dass in ihrem Theaterhaus alles getan wurde, was möglich war, um die Arbeit fortsetzen zu können, sie rissen die Stühle aus dem Zuschauerraum und reduzierten das Publikum auf ein kleines Häuflein. „Ich frage mich, warum das zum Beispiel in Flugzeugen nicht gemacht wurde“, schrieb sie mir: „Ist das, was wir den Menschen bieten, weniger wichtig als eine Reise an das andere Ende der Welt?“

Nach so vielen Bemühungen, die notwendig waren, um relativ wenig zu erreichen, war ihre Deutung der Krankheitssymptome von der Sorge erfüllt, die Kultur und die Kunst könnten leicht aus unseren Leben verschwinden.

Dieselbe Sorge plagte Zygmunt Bauman, als er zu Beginn des Jahrtausends betonte, dass die Aufgabe der Kunst während der gesamten Geschichte der Menschheit darin bestand, aus unseren unsteten Lebensverläufen einen festen Kern der Nachhaltigkeit zu sedimentieren, aus der Unmenge unserer diskontinuierlichen Geschichten eine Kontinuität zu erschaffen; doch auch damals, als er das sagte, genauso wie heute, interessierten sich nur wenige für diese Aufgabe.

Eine Vorstellung in Zagreb

Anfang Juli besuchte ich nach langer Zeit ein Zagreber Theater, um eine Vorstellung zu sehen, für die eine Gruppe von Autoren, zu der auch ich gehörte, Texte aus der Quarantäne geschrieben hatte. Die Zuschauer waren in drei kleine Einheiten aufgeteilt, die innerhalb des gesamten Theatergebäudes verstreut waren, damit sie sich nach Möglichkeit nur selten begegneten.

Der erste Teil wurde zwischen den Kleiderständern in der Garderobe gespielt, der zweite im Spiegel gegenüber der Damentoilette, der dritte im Lager für Bühnenbilder, der vierte in der Tonkabine, der fünfte im Probenraum und der sechste auf dem Dach.

Ich hielt mich am Ende meiner Zuschauergruppe, wobei ich das Gefühl hatte, unter der Maske wenig Luft zu bekommen. Ich verspürte Lampenfieber, als wäre ich selbst auf der Bühne, was gewissermaßen auch stimmte, da tatsächlich die epidemiologischen Maßnahmen die Regie mitgestalteten und da der Erfolg der Aufführung auch von unserer kollektiven Improvisation abhängig war.

Wir als Publikum waren ein authentisches Abbild der Krise, aber auch ein Beispiel dafür, wie man sie überwinden kann.

Tränengas in Belgrad

In jenen Tagen, als über Serbien Wolken aus Tränengas schwebten, meldete sich Siniša aus Belgrad. Gezwungen, volle vier Wochen in Selbstisolation zu verbringen, arbeitete er an eine Serie von Zeichnungen zum Thema zeitgenössisches Europa. Seine spezifische Bildersprache bietet ein von der Ökonomie bestimmtes Bild der Welt, auf dem besonders Leerstellen und Abstände sichtbar sind, während Menschenkörper nur noch als wegradierte Formen existieren, an denen Kleidung, Uniformen oder Masken hängen.

Im grafischen Zyklus unter dem Titel „Social Distancing“ versammeln sich Menschengruppen um ein imaginiertes Zentrum. Doch dieses Zentrum ist nur ein verschmierter Fleck, ein angeblicher Inhalt ohne Botschaft und ohne Sinn, eine Leere, die auf etwas Verlorenes verweist und uns erinnert, dass das Zentrum unserer Kohäsion leer ist.

Siniša Ilić, “Social distancing“, ink on paper, A4 format, 2020 Foto: Siniša Ilić

Wie auf der Zeichnung von Siniša sind wir dabei ertappt worden, wie wir diese Situation betrachten, auf die wir nicht vorbereitet waren. Uns fehlen die Worte, den Zustand, in dem wir uns befinden, zu beschreiben, und wir schaffen es nicht, das zu sehen, worauf wir unsere Blicke richten.

In der Falle des Ausnahmezustands, in den wir eingetaucht sind, kann unser Überleben nur noch die reine Improvisation sein, so wie jene, die man inmitten eines zahnlosen Zuschauerraums erfahren kann oder auf den Straßen in Ljubljana, durch die Fahrradfahrer kreisen, oder vor dem Nationalparlament Serbiens, wo die Studenten mit Friedensbotschaften wie „Ihr sollt dieses Volk nicht schlagen“ die Schlägertrupps der Polizei stoppen, oder aber durch die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Kroatien. Bei diesen Wahlen gelang es der links-grünen politische Plattform namens Možemo („Wir können es“) zum ersten Mal, eine bedeutende Rolle als Teil der Opposition zu erreichen.

Ergebnisse einer Kampagne

Es gelang ihnen, ihre Stimmen ohne Budget für eine Wahlkampagne zu gewinnen, indem sie sich sozialer Netzwerke bedienten, indem ihnen viele Volontäre halfen sowie dank ihres großen Ansehens, das sie aufgrund ihrer langjährigen Arbeit für das Gemeinwohl genießen.

Die Ergebnisse ihrer Kampagne hingen auch davon ab, wie sehr wir alle, die wir sie seit Jahren unterstützten und ihnen vertrauten, es schaffen würden, unsere Nächsten aus der politischen Apathie und aus ihrem Misstrauen gegen das demokratische Verfahren herauszulocken. Ich sendete tagelang Nachrichten und Links an meine Mutter, erklärte ihr das Programm und die Pläne der Plattform Možemo und erinnerte sie an die Wahlen, sobald ich in Zagreb eingetroffen war. Sie antwortete, dass die Politik sie anwidere.

Doch ich ließ nicht locker, und am nächsten Tag nahm ich sie an die Hand und schleppte sie beinahe zum Wahllokal. Viele meiner Kollegen taten dasselbe. Das war ein Beispiel für k­ollektive Improvisation. Jede Stimme zählt. Jede Geste ist wichtig. Von ihnen hängt der Erfolg unserer gesellschaftlichen Aufführung ab. Das lernen wir vom Theater. Das lernen wir voneinander. Das ist das, was die Ränder europas dem Zentrum zu sagen haben.

(Aus dem Kroatischen von Alida Bremer)

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