Eurokolumne: Der Patient aus Paris
Frankreich fehlt eine Strategie, um dem Dilemma der Deindustrialisierung zu entkommen. Standard & Poor’s stuft die Bonität erneut herab.
D ie Bretonen sind in Aufruhr geraten, und manch einer fragt sich, ob und wann die aufgeladene Stimmung auf andere Regionen in Frankreich überschwappen könnte. Immerhin hat es der Protest in der Bretagne in sich: Straßenblockaden und Demontagen von Mautanlagen an den Autobahnen. Dabei wirft der Protest nur ein Schlaglicht auf die Krise in Frankreich – und darauf, dass Reformen jahrelang verschlafen wurden.
In der Bretagne sind Schlachthöfe geschlossen und Tausende Arbeiter vor die Tür gesetzt worden. In Frankreich wird einem Schlachthofarbeiter ein Mindestlohn für schwere Arbeit in Höhe von 14 Euro gezahlt; in Deutschlands größtem Schlachthof sind es 5,50 Euro. In der ohnehin schon strukturschwachen Region am Atlantik war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Der zweite Grund war die Erhöhung der regionalen „Straßensteuern“, die vor allem für Laster gelten.
Die soziale Anspannung in Frankreich ist mit Händen zu greifen – und mit ihr die täglich größer werdende Schwäche von Präsident Hollande und seiner Regierung. Deindustrialisierung ist das Unwort der Stunde: La Redoute, Alcatel-Lucent, Peugeot, Tilly-Sabco, Michelin – die Liste der Unternehmen, die Entlassungen und Sozialpläne angemeldet haben, ist lang. Mehr als 1.000 waren es im vergangenen Jahr, und für dieses Jahr sind bereits 736 Meldungen eingegangen.
geboren am 1964 in Grevenbroich, ist Politikwissenschaftlerin. Sie leitet seit seiner Gründung 2007 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. Guérot lebte fast zehn Jahre in Frankreich und trägt das französische Verdienstkreuz.
Da verwundert es kaum, dass Standard & Poor's die Kreditwürdigkeit des Landes am Freitag erneut herabgestufte. Die Ratingagentur bewertet die Bonität Frankreichs nur noch mit "AA" - und damit eine Stufe niedriger als zuletzt mit "AA+".
Zu viel Arbeitslose - zu wenig Reformen
Die hohe Arbeitslosigkeit schwäche den Willen für signifikante Reformen, hieß es zur Begründung. Und: Die von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen reichten nicht, um die Wachstumsaussichten des Landes mittelfristig deutlich zu verbessern.
Besonders fatal für die zweitgrößte Industrienation der Eurozone: Gerade mal 13 Prozent des BIP werden in Frankreich noch im industriellen Sektor erarbeitet. Vor zehn Jahren waren es noch 18 Prozent. In Deutschland - natürlich noch mit dem Spitzenrating "AAA" - liegt de Quote bei rund 30 Prozent. 400.000 Arbeitsplätze sind im produzierenden Gewerbe in Frankreich seit 2007 verloren gegangen, weitere 53.000 sind bedroht – und der französische Staat zeigt sich unfähig, die Tendenz zu stoppen. Reindustrialisierung ist die politische Losung, aber sie wird eine Generation brauchen. Für heute, morgen und übermorgen hat Frankreich keine plausible Strategie, wie es die ökonomische und soziale Krise überwinden will.
Das Hexagon ist daher seit Wochen und Monaten schon in einer Art politischem Ausnahmezustand, und keine Hoffnung scheint in Sicht. Jetzt rächt sich die jahrelange Vertagung von Reformen. Zum Beispiel die öffentliche Hand: Die Staatsquote beträgt über 50 Prozent, entsprechend bedeutend ist der Beamtenapparat, dem Kenner eine strukturelle Reformunfähigkeit attestieren.
Gerade mal 14 Prozent Vertrauen in der Bevölkerung genießt François Hollande. Das reicht nicht für drastische Strukturreformen. Auch nicht für eine weitsichtige politische Modernisierung, die längst überfällig ist, etwa eine klare Trennung von Exekutive und Legislative. Es reicht erst recht nicht für mutige Schritte in Europa - wie die Vollendung der Bankenunion.
Kein Wunder auch, dass von Europa in Frankreich nicht viel die Rede ist, zumal Brüssel und die Sparpolitik für die Misere mitverantwortlich gemacht werden. Gerade deshalb schaut Frankreich dieser Tage auch besonders genau auf die deutschen Koalitionsverhandlungen und das, was die SPD dort verhandeln kann: Geld für europäische Infrastrukturprogramme, einen gesetzlichen Mindestlohn - oder gar einen europäischen Schuldentilgungsfonds?
Mitten in die Koalitionsverhandlungen hinein veröffentlichte das französische Finanzministerium ein Papier, in dem es ein gemeinsames Budget für die Eurozone fordert. Damit soll eine europäische Arbeitslosenversicherung finanziert werden. Ob die SPD sich mit solchen Ideen anfreunden kann?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Zoff zwischen SPD und Grünen
Die Ampel? Das waren wir nicht!
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär