Esskultur in Litauen: Gute Wurst, böse Wurst
In Litauen steht die Sowjetunion für das Schlechte. Nur die Sowjetunion-Wurst schmeckt. Im Gegensatz zu der ungenießbaren namens Europa.
Die Wurst an sich ist ein unkompliziertes Nahrungsmittel. Abgesehen vom Haltbarkeitsdatum schmeckt sie einem – oder eben nicht. In Litauen ist das anders. Dort sind Würste politisch. Nur weil die eine mundet, heißt das noch lange nicht, dass sie auch gut ist. Und nur weil die andere gut ist, heißt das noch lange nicht, dass sie auch schmeckt.
Die böse Wurst schaffte es neulich sogar in die Hauptnachrichtensendung des Landes. Ernst kündigte die Moderatorin den Beitrag an. Die Wurstmarke, um die es geht, ist äußerst beliebt in Litauen, sie hat viele Preise gewonnen. Wegen der geopolitischen Lage darf es sie so aber nicht mehr geben. „Das ist unsere Pflicht als Staatsbürger Litauens“, sagte Alfredas Rimidis, der Präsident des Fleischproduzenten Samsonas, der die böse Wurst herstellt. Rimidis war per Telefon zugeschaltet.
Während er sprach, sahen die Zuschauer Bilder der Wurst in all ihren Variationen: An einem hängenden Exemplar fährt langsam eine Kamera hinauf, Hände sortieren Wurstpackungen im Kühlregal. Wiener, Kochwurst, Mortadella. „100 % Qualität“ steht da drauf und „Nein zu Fleischersatz“. Die Verpackung sieht toll aus: knallrote Folie, fröhliche Gesichter. Was kann an ihr so schlimm sein, dass sie verschwinden muss? Wladimir Putins Verhalten hat damit zu tun, heißt es in den litauischen Nachrichten, und der Krieg in der Ukraine.
Die Wurst beziehungsweise die Wurstmarke heißt „die Sowjetische“ und sorgt schon seit es sie gibt, seit 1998, für Kontroversen. Viele Litauer empörten sich über den Namen, der sie an die Besetzung Litauens durch die Sowjetunion erinnert. Litauen war das erste Land, das unabhängig wurde. Beim Referendum am 9. Februar 1991 stimmten 90,5 Prozent der Litauer für die Abspaltung von der Sowjetunion. Die Wahlbeteiligung betrug 85 Prozent.
Frank Zappa Statue und Europawurst
Im selben Jahr wurde Litauen Mitglied der Vereinten Nationen. In der Hauptstadt Vilnius rissen sie die Leninstatuen ab und errichteten eine von Frank Zappa. Heute fühlen sich die Litauer wieder von Russlands Politik bedroht und suchen Unterstützung innerhalb der EU. Die Grenzen zwischen Gut und Böse scheinen klar. Wenn nur die Wurst nicht wäre.
Das Gute, das ist Europa. Europa ist die Gegenwart und die Zukunft, Fortschritt, Wohlstand und Demokratie. „Wir lieben Europa“, sagt eine Verkäuferin im Europa-Einkaufszentrum und weist auf die Fahnen der europäischen Nationen, die von der Decke hängen. Nachdem die Litauer unabhängig wurden, eröffneten sie Europaparks, Europa-Restaurants, Europa-Apotheken, -Reinigungsketten und -Spielplätze. Dann, zum Referendum über den EU-Beitritt 2003, brachte der Fleischhersteller Biovela die Euro-Wurst auf den Markt. Sie sollte das Aroma der Zukunft tragen.
Weil Biovela wusste, dass die Litauer befürchteten, mit dem Beitritt in die EU werde alles teurer, machten sie die Euro-Wurst günstig und von minderer Qualität. Auf der Verpackung prangt der Slogan: „Europäische Qualität, litauischer Geschmack“. Zwei Dinge, die sich scheinbar schwer vereinen lassen. „Wer weiß, was alles in dieser Wurst ist. Die ist doch voller Chemie, um mehr Geld zu machen. Lebensmittel werden immer schlechter“, sagt Marija Milukaite. Die 39-Jährige arbeitet bei Maxima, der größten Supermarktkette Litauens.
Geschmack, so scheint es, hat nichts mit Modernität und EU-Lebensmittelregulierungen zu tun. Geschmack ist Tradition, Heimat, die guten alten Zeiten, ob sie nun gut waren oder nicht. Die Euro-Wurst gewann Medaillen und Preise – und floppte dennoch. Biovela machte Labortests, um den Geschmack des Volks zu erforschen und fand heraus: Die Litauer mögen Knoblauch, und sie lieben Fett.
Die Wurst als Nationalgefühl
Beides hat im Westen einen schlechten Ruf. Selbst zu Sowjetzeiten, als man sich die Beatles-Platten und Blue Jeans vom Mund absparte, war die westliche Wurst für die Litauer nicht begehrenswert. Man wusste es besser. Litauen war die Fleischabteilung der Sowjetunion, pro Kopf wurde mehr als doppelt so viel Wurst produziert als in jeder anderen Republik.
Trotzdem war sie ein Luxusgut und wurde an Arbeiter verteilt, um sie zu belohnen oder anzuspornen. Züge voller Wurst fuhren nach Russland. „Unsere Wurst ernährt Moskau“, sagte man damals und äußerte anhand der Wurst ein verbotenes Nationalgefühl. Schon damals war die Wurst politisch.
Der osteuropäische Markt ist zu einer politischen Arena geworden, in der nationale Identitäten und Zugehörigkeiten geformt werden. Das schreibt die Anthropologin Neringa Klumbyte in ihrer Forschungsarbeit „The Soviet Sausage Renaissance“, aus der viele der Hintergrundinformationen für diesen Artikel stammen. Die Marke „die Sowjetische“ und deren Konsum ist ein politisches Statement, das heute nicht mehr tragbar ist. Die Sowjetunion ist das Schlechte und Totalitäre. Sie ist der Inbegriff des Scheiterns.
Die Wurst aber hatte bislang Erfolg, weil die Sowjetunion auch Vergangenheit ist, das Altbekannte, die Kindheit. Sie wird mit Natürlichkeit verbunden. Die Lebensmittel in der Sowjetunion waren knapp, aber gut – zumindest in der Erinnerung vieler Litauer. Die meisten dürften aber auch noch diesen Witz kennen, den man sich damals erzählte: Warum gibt es zu wenig Toilettenpapier? Weil man es zerhackt und in Wiener steckt.
Aus Nostalgie für den sowjetischen Alltag
Laut Klumbyte ist die sowjetische Wurst kein Monument für Lenin oder Stalin, sondern für den sowjetischen Alltag. Man kauft sie aus Nostalgie, oder weil man denkt, dass sie gesünder ist. Die sowjetische Wurst, die genauso wie die Euro-Wurst nach EU-Standards und mithilfe neuster Technologie produziert wird, ist die Lieblingswurst der Litauer. Und das, obwohl sie ziemlich teuer ist. 2005 machte sie ein Fünftel aller konsumierten Fleischprodukte aus, 2010 wurde sie als beliebteste Wurstmarke ausgezeichnet.
Die Verpackung: Mädchen mit Zöpfen, Felder, Bäuerinnen mit geblümtem Kopftuch – teilweise sind die Motive direkt von Stalins Propagandapostern kopiert, nur sind die Menschen etwas jünger und noch glücklicher. Samsonas wirbt mit naturbelassenem Fleisch, vor allem aber mit dem Geschmack von Erinnerungen an eine Zeit ohne künstliche Zusatzstoffe.
Mit Europa kamen auch die E-Nummern nach Litauen. Seitdem es die sowjetische Wurst gibt, sind die Einnahmen des Unternehmens in die Höhe geschossen. Deswegen wird Samsonas auch in Zukunft nicht auf die Marke verzichten. Die Wurst und ihr Design bleiben, nur der Name ändert sich ab Dezember.
„Jeder kauft das, was er will, und glaubt, was er will“, sagt Marija Milukaite, während sie im Supermarkt Maxima Waren sortiert. Ihr ist Politik nicht wichtig. „Ich selbst kaufe am liebsten auf dem Markt.“ Auf dem Kalvariju-Markt, ganz in der Nähe des Europa-Einkaufszentrums, sind die Preise im Moment auf ein Drittel gesunken. Die Bauern wissen nicht, wohin mit dem Gemüse. Sanktionen. Wieder Russland.
Der Lebensmittelmarkt ist ein Spiegel der politischen Entwicklungen in Litauen: die Europa-Euphorie der frühen 90er, die Integration in die EU, das Misstrauen gegenüber EU-Richtlinien, Nostalgie und die Suche nach nationaler Identität. Das Umbenennen der sowjetischen Wurst ist ein weiteres klares Zeichen. Ihr Geschmack ist abhängig von dem, der sie kaut.
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