Essayband „Über Könige“: Die Widersacher des Monarchen
Marshall Sahlins und David Graeber untersuchen die Wirkmächtigkeit von Monarchien. Götter gab es demnach auch in atheistischen Gesellschaften.
Die Ethnologie ist eine hochpolitische Wissenschaft. Nicht allein weil sie in der Vergangenheit staatlichen und imperialen Rassismus legitimierte, sondern auch weil ihre Erkenntnisse Aufschluss über die Ursprünge von Ideen, Praktiken und Institutionen geben, auf denen moderne Staaten gründen.
David Graeber, 2020 früh verstorben, war ein besonders umtriebiger Vertreter seines Fachs. Der bekennende Anarchist und Anführer der Bewegung Occupy Wallstreet avancierte mit internationalen Bestsellern wie „Schulden – Die ersten 5.000 Jahre“ oder „Bullshit-Jobs“ zu einem Stichwortgeber der Linken.
Gemeinsam mit seinem einstigen Doktorvater Marshall Sahlins brachte Graeber 2017 einen Essayband heraus, der nun stark gekürzt bei Wagenbach auf Deutsch erscheint. „Über Könige“ ist der Versuch einer Archäologie der Souveränität, worunter Graeber die Macht versteht, unter Strafandrohung Befehle zu erteilen.
Er lehnt sich eng an Carl Schmitt an, der lehrte, souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide, also das Recht nicht nur setzen, sondern auch außer Kraft setzen könne. Auf Basis einer beeindruckenden Materialfülle versuchen er und Sahlins die Wurzeln dieser Idee aufzudecken und deuten ihre Genese bis zur Volkssouveränität in der Demokratie an.
Marshall Sahlins, David Graeber: „Über Könige. Versuche einer Archäologie der Souveränität“. Wagenbach, Berlin 2022, 160 Seiten, 24 Euro
Imitation göttlicher Hierarchie
Sahlins entwickelt zunächst die interessanteste These des Bands: Die gesellschaftliche Hierarchie sei eine Imitation der göttlichen. Damit widerspricht er der seit Durkheim verbreiteten Gewissheit, dass religiöse Ordnungen aus gesellschaftlichen abgeleitet wurden, oder – mit Marx gesprochen –, dass das Sein das Bewusstsein bestimme.
Laut Sahlins war es genau umgekehrt. Selbst in Kulturen, die kein Königtum kannten, wurden die Menschen von Göttern regiert. Sie waren die Herrscher, insofern sie willkürlich über Hunger, Krankheit und Naturkatastrophen entschieden. Wenn sich nun ein Königtum herausbildete, dann indem es die göttliche Ordnung auf Erden verdoppelte.
In der Folge beschreibt Graeber das Verhältnis zwischen Volk und König als fortwährenden Krieg. Während der König den kosmischen Vorbildern nacheifert und versucht, seine Macht über das Volk zu vergrößern, wehrt sich dieses, indem es das Oberhaupt mittels Tabus und Riten von der Gesellschaft entfernt und so seinen Einfluss schmälert.
In einem solchen Sakralkönigtum mag die Macht theoretisch total sein, sie findet ihre Grenzen aber zum Beispiel darin, dass der König weit von seinen Untertanen separiert wird und sie niemals zu Gesicht bekommen darf. Selbst Königsmorde sind in diesen Systemen üblich, sofern der Monarch seinen Gottstatus nicht mit militärischen Siegen oder reichen Ernten unter Beweis stellen kann.
In Konkurrenz zu toten Vorgängern
Ein König muss sich aber nicht nur mit den Lebenden herumschlagen, seine größten Widersacher sind häufig die Toten. In zahlreichen Kulturen werden seine Vorgänger auch nach ihrem Ableben verehrt, sie behalten ihren Besitz und sogar ihren Hofstaat.
Das hat zur Folge, dass der aktuelle König neue Gebiete erobern muss, um das eigene Gefolge zu ernähren und Ruhm zu erlangen. Auch Massenmorde an der eigenen Bevölkerung seien durch das Streben motiviert, die Ahnen auf dem Feld der Grausamkeit zu überbieten.
Die politische Botschaft für die Gegenwart entfaltet sich eher im Hintergrund der Essays. Die Autoren konstatieren „eine tiefe strukturelle Verwandtschaft zwischen der heutigen Idee, dass alle Bürger ‚vor dem Gesetz gleich‘ sind, und dem monarchischen Prinzip, dass sie gleich sind als potenzielle Opfer rein willkürlicher königlicher Verwüstung“.
Daraus lässt sich Folgendes schließen: Wenn sich erstens die Idee der Souveränität aus der Imitation einer kosmischen Ordnung ableitet und sie zweitens in unserer Gegenwart fortwirkt, können sich heutige Hierarchien nicht darauf berufen, rationale oder humane Ideen zu verwirklichen. Freilich erforderte ein derart radikaler Schluss weitere Ausführungen. Man muss ihm jedoch nicht zwangsläufig folgen, um diesen schmalen, doch prall gefüllten Band mit Gewinn zu lesen.
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