Essay über Schwangerschaftsabbruch: Was nicht geteilt werden darf
Bekannt geworden ist die Französin Pauline Harmange mit ihrem Essay „ich hasse männer“. Jetzt legt sie nach mit einem Buch über Abtreibung.
Ihr Erstlingswerk sorgte für große Aufregung, nicht nur in Pauline Harmanges Heimat Frankreich, auch hierzulande wurde bei dem Titel „ich hasse männer“ (2020) laut aufgeheult. „Darf man zum Männerhass aufrufen?“, fragte ein deutsches Medium etwa, andere unterstellten Harmange Hochverrat und ein Mitarbeiter, der das französische Ministerium zur Geschlechtergleichstellung beraten sollte, forderte von dem Verlag, das Buch zurückzuziehen.
Dabei sind es nach Harmange, die selbst in einer romantischen Beziehung mit einem Mann ist, weniger die Männer per se, die sie hasst, als vielmehr deren stereotyp-männliches Verhalten. Was alles dazu zählt, schlüsselt sie in ihrem Essay auf. Den sollte man(n) halt lesen, statt sich bloß von dem radikalen Titel abschrecken zu lassen.
Harmanges neuester Titel – zwischendrin veröffentlichte die 1994 in Frankreich Geborene noch einen Roman – beschäftigt sich mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch und seiner gesellschaftlichen Rezeption. Zwar bekäme das Thema immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit, meist aber nur dann, wenn sich irgendwo die Rechtslage zugunsten oder zuungunsten einer medizinischen Beendigung der Schwangerschaft ändert. Ja, reicht das denn nicht?
Nein, findet Harmange. Denn was meist medial zum Thema Abtreibung verhandelt wird, komme selten ohne Drama aus. Entweder man stoße auf Informationen und Statistiken oder aber auf individuelle Geschichten, die – egal in welche Richtung – meist tragisch sind. Dass das Erlebnis einer Abtreibung, wenn man denn den Zugang dazu hat, individuell ist, will Harmange auf knapp hundert Seiten verdeutlichen. Denn bisher „gibt [es] keinen Platz für unsere Vielfalt“.
Abtreibung trotz generellem Kinderwunsch
Um also eben jene Vielfalt zu schaffen, wirft Harmange mit „ich muss darüber sprechen“ ihre Erfahrung in den Ring und erzählt nicht nur, dass sie abgetrieben hat (das allein sollte 2023 kein Statement mehr sein), sondern beantwortet auch, warum: „Die Sehnsucht nach einem Kind, an das ich bei meiner Entscheidung zur Abtreibung dachte, noch bevor ich an mich selbst dachte, war nicht meine. Sie war das Ergebnis einer komplizierten Gleichung: eine Frau zu sein, als Frau erzogen worden zu sein und sich brav diesen Vorgaben gefügt zu haben.“
Doch zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft ist Harmange noch nicht bereit, fühlt sich zu jung und allem voran finanziell nicht dazu in der Lage.
Ihre Entscheidung ist eine wohl abgewogene, mit ihrem Partner bis ins Kleinste besprochene und gemeinsam durchlebte. Oft werde zu Recht beklagt, dass Männer über ein zu geringes Repertoire zur Beschreibung ihrer Gefühle in Krisensituationen verfügten, schreibt Harmange und weiter: „Indem ich meinem Mann einen Platz im Erleben meiner Abtreibung eingeräumt habe, habe ich auch seinen Gefühlen Raum gegeben.“
Sie lässt die Lesenden am Schmerz teilhaben
Harmange ist abgeklärt, das merkt man ihrer Sprache an. Ihr Bestreben, das Individuelle auf eine kollektive Ebene zu heben, erinnert an Annie Ernaux, die ihre eigene Abtreibungserfahrung in „Das Ereignis“ behandelt. Harmanges Ton ist aber weniger kühl, als der der Nobelpreisträgerin. Eher wütend, wenn auch nicht so sehr wie in ihrem ersten Buch, schreibt sie gegen Ungerechtigkeiten an und lässt in ihrer Vehemenz an Virginie Despentes denken.
Den Schmerz, den die Abtreibung mit all ihren physischen wie psychischen Einflüssen hinterlassen hat, münzt Harmange um, breitet ihn aus und lässt die Lesenden daran teilhaben. Da ist die Angst vorm Bereuen, die weder vor noch nach dem Abbruch ganz verschwindet, die Befürchtung, das Recht aufs Muttersein verwirkt zu haben, sowie die Schwierigkeit, anschließend wieder Sex zu haben.
Pauline Harmange: „ich muss darüber sprechen“. Übersetzt von Nicola Denis. Rowohlt, Hamburg 2023. 128 Seiten, 12 Euro
Es ist vermutlich nicht das Buch des Jahres und doch ist es wohltuend und tröstend, Teil dieser Lebensrealität zu werden, selbst wenn sie einen nicht betreffen sollte. Denn wie schreibt Harmange so schön: „Wenn weiße Hetero-Cis-Männer hundertmal die gleiche Geschichte von einem in der Midlife-Krise steckenden Antihelden erzählen können, […] können sich auch andere das Recht nehmen, zu wiederholen, zu bekräftigen und einzubläuen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen