Essay über Krieg und Frieden in Europa: Die zwei Herzen Europas
Der Ukrainekrieg hat die Grenzen des Pazifismus aufgezeigt und ein vergessenes Prinzip wiederbelebt: den Widerstand gegen das Imperium.
Im Jahr 2003 veröffentlichten Jürgen Habermas und Jacques Derrida einen gemeinsamen Artikel in Deutschlands und Frankreichs führenden Zeitungen. Darin kritisierten sie den amerikanische Überfall auf den Irak und forderten die Europäer auf, eine reflexive Distanz zu sich selbst einzunehmen, insbesondere zu ihrem Imperialismus und Kolonialismus. Habermas und Derrida stellten sich alternativ ein postimperiales Europa vor, das „die kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik“ erfüllt.
Ihr Aufruf, dass Europa die Welt in eine postimperiale Zukunft führen solle, war eine schöne Idee. Heute jedoch, angesichts des völkermörderischen Überfalls Russlands auf die Ukraine, stellt sich die Frage, ob eine solche postimperialistische Welt mit den von den beiden Philosophen vorgeschlagenen Mitteln erreicht werden kann.
Das Europa, das sie sich vorstellten, war ein Europa des Dialogs und des Gesprächs, in dem Unterschiede akzeptiert werden. Das ist gewiss eine ehrenwerte Idee. Das Problem ist nur, dass sie dem Bösen gegenüber machtlos ist.
Die Frage des Bösen relativieren
Das europäische Selbstverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich auf die Selbstverständlichkeit des Friedens. Die Frage war, wie das Territorium, in dem Frieden herrschte, vergrößert werden könnte, aber nicht, wie der Frieden verteidigt werden sollte. Europa war von der Idee angezogen, die Grenzen für den freien Verkehr von Gutem und Gütern abzuschaffen, aber gleichgültig gegenüber der Überlegung, wie die Grenzen gegen das Böse gestärkt werden könnten.
Europäische Intellektuelle fragen in der Serie „Lehren des Krieges“, initiiert von den Eurozine-Mitbegründern Carl Henrik Fredriksson und Klaus Nellen, was Russlands Einmarsch in die Ukraine für die Zukunft Europas bedeutet. Die taz druckt ausgewählte Beiträge ab. Dieser Essay ist eine leicht gekürzte Version des Originalbeitrags.
© Eurozine und Voxeurop
Volodymyr Yermolenko ist ein ukrainischer Philosoph und Autor. Er ist Präsident von PEN Ukraine.
Man relativierte die Frage des Bösen, indem man davon ausging, dass alles Böse einfach durch die Attraktivität des Guten reintegriert werden kann. Diese Überzeugung prägte Europas lang anhaltende Affäre mit Russland. In dieser Beziehung nahm Europa Goethes „Faust“ wörtlich: Es probierte die Idee aus, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Allerdings vergaß es dabei, wie die Geschichte endet.
Nachkriegseuropa und einige seiner bedeutendsten Intellektuellen, darunter Habermas und Derrida, haben auch wesentliche Ursprünge des europäischen Projekts vergessen. Diese waren nämlich nicht in erster Linie der „freie Markt“, die „wirtschaftliche Integration“ oder gar die Beseitigung der Grenzen. Vielmehr ging es darum, die Idee des Imperiums mit der Idee der Republik zu konfrontieren.
Die Philosophen der Nachkriegszeit haben gut formuliert, wie imperiale (und postimperiale) Nationen ihre eigenen imperialen Instinkte überwinden können. Aber sie blieben blind dafür, was nichtimperiale Gesellschaften tun müssen, wenn sie mit neoimperialer Aggression konfrontiert werden. Die Ursprünge der europäischen Idee enthalten jedoch eine Antwort auf genau diese Frage.
Republiken gegen Imperien
Richard von Coudenhove-Kalergi – Autor des prophetischen Buches „Pan-Europa“, das 1923 veröffentlicht wurde – ist als visionärer Wegbereiter Nachkriegseuropas gepriesen worden, aber seine wichtigsten Argumente sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Sie berührten die große Frage: Wie können sich Republiken gegen besessene Imperien (damals Deutschland und Russland) verteidigen, insbesondere wenn diese Republiken kleiner und schwächer sind?
Coudenhove-Kalergis Antwort war klar: nur durch die Schaffung einer Konföderation von Republiken, einer Sicherheitsunion – nicht nur einer wirtschaftlichen oder politischen Union –, die viel schwieriger anzugreifen sein wird als isolierte Nationalstaaten. Es wäre eine Union, die ein Gleichgewicht zwischen den Vorteilen des Friedens und der Notwendigkeit, ihn zu verteidigen, anstrebt. Ein Gleichgewicht zwischen Agora und Agon.
Europa wurde auf zwei ethischen Systemen aufgebaut: zwei Arten, die Haltung gegenüber dem anderen zu bestimmen. Das eine ist die Ethik der Agora, eine Ethik des Austauschs. In der Agora geben wir etwas, um mehr zu bekommen, als wir hatten. Wir tauschen Waren, Gegenstände, Ideen und Erfahrungen. Die Agora ist ein Positivsummenspiel: Jeder gewinnt, auch wenn einige versuchen, mehr zu bekommen als die anderen.
Das zweite ethische System ist das des Agon. Der Agon ist ein Schlachtfeld. Wir betreten den Agon nicht, um zu tauschen, sondern um zu kämpfen. Wir träumen davon, zu gewinnen, sind aber auch bereit, zu verlieren – auch uns selbst, sogar im wörtlichen Sinne des Sterbens für eine große Sache. Hier gilt nicht die Logik eines Positivsummenspiels; es kann keine Win-win-Situation geben, denn eine der beiden Seiten wird mit Sicherheit verlieren.
Agora und Agon im Wechsel
Der Aufbau Europas basiert auf einer Kombination aus Agora und Agon. Europas kulturelles Erbe ist ohne die Ethik des Agon nicht denkbar: ob es sich um mittelalterliche Romane mit ihrem Kult der Ritterlichkeit und Treue handelt oder um frühneuzeitliche Dramen, deren Figuren für ihre Prinzipien und Leidenschaften sterben. Aber Europa ist auch undenkbar ohne die Kultur der Agora, des Gesprächs, des Kompromisses, der Sanftheit, der mœurs doux von Voltaire.
Der europäische Kulturkanon enthält auch Kritik an beiden, Agora und Agon, wenn diese zu weit gehen. Er umfasst Angriffe auf die ritterliche Kultur und den Kult des Krieges (von Cervantes bis Remarque) ebenso wie auf die bürgerliche Kultur des Austauschs (von Molière bis Balzac).
Diese beiden ethischen Systeme enthalten tiefe menschliche Werte. Aber wenn man sie auf die Spitze treibt, sind beide gefährlich und müssen durch das jeweils andere System ausgeglichen werden.
Ethiken im Gleichgewicht
Die Ethik des Agons lehrt uns, alle Menschen als potenzielle Gegner zu sehen und jede Interaktion als latenten Kampf zu betrachten. Das kann zu einem Krieg aller gegen alle führen. Was Hobbes im „Leviathan“ als Naturzustand beschreibt, ist in Wirklichkeit eine hochentwickelte Stufe der gesellschaftlichen Evolution, die die Kriegerethik verabsolutiert und jeden anderen als Bedrohung betrachtet.
Die radikale Agora-Ethik verabsolutiert dagegen den Austausch und den Kompromiss. Hier sind Austausch und Dialog die ultimative Antwort auf alle Fragen. Kriege und Konflikte werden als Folgen des menschlichen Wahnsinns betrachtet, und der einzige Grund, warum Menschen streiten, ist, dass sie nicht die Möglichkeit hatten, ausreichend miteinander zu reden.
Wenn die Logik der Agora universell und unbeschränkt angewandt wird, verlieren wir das Gefühl dafür, wo wir in unserer Leidenschaft für den Austausch aufhören sollen. Wir können und sollten nicht mit einem Mörder in dem Moment reden, in dem er uns umbringen will; und wir können und sollten nicht das Leben unserer Angehörigen oder unserer Mitbürger gegen etwas anderes „eintauschen“.
So entstehen Wahrheit und Gerechtigkeit als Gleichgewicht zwischen unserer Bereitschaft zum Tausch und unserer Einsicht, dass manche Dinge gegen nichts eintauschbar, dass sie unersetzlich sind – zum Beispiel das menschliche Leben. Trotz ihrer philosophischen Differenzen teilten Habermas und Derrida etwas Wichtiges: die Idee, dass die Agora den Agon ersetzen und ihn in Vergessenheit geraten lassen sollte.
Wo die Philosophen irrten
Habermas setzt auf einen unendlichen Raum der Kommunikation, in dem jeder bereit sein sollte, seine Positionen zu korrigieren, wenn er mit neuen rationalen Argumenten konfrontiert wird. Derrida baute seine Philosophie auf der Idee auf, dass die westliche Metaphysik eine „Diktatur der Präsenz“ ist, der unersetzlichen Stimme eines metaphysischen Vaters, und dass die einzige Möglichkeit, ihr entgegenzuwirken, in der Idee unendlicher Ersetzungen und Neuinterpretationen besteht. Dies geschieht durch das, was er als Schrift (écriture) bezeichnet.
Während Habermas versucht, die Ausdehnung der Vernunft zu gewährleisten, war Derrida an der Beharrlichkeit dessen interessiert, was sich der Kontrolle der Vernunft entzieht. Beide glaubten jedoch, dass ein ewiger Prozess des Austauschs und der Ersetzung die Antwort auf den religiösen und metaphysischen Dogmatismus früherer Epochen sei. Sie versuchten beide, das Unersetzliche zu untergraben.
Das Problem, das sie nicht erkannten, ist, dass es ohne Agon keine Agora gibt. Man kann keinen unendlichen Dialog innerhalb eines Stadtstaates führen, wenn man nicht eine Befestigung baut, die die Stadt vor Angreifern schützt. Das Europa von Habermas und Derrida war auf dem naiven Glauben aufgebaut, dass es keine Feinde mehr gebe und man sich um Sicherheit keine Sorgen mehr machen müsse.
Die Heuchelei, die der Vorstellung von Europa als einem Kontinent des „ewigen Friedens“ und der „unendlichen Agora“ innewohnt, besteht darin, dass dies nur unter dem Sicherheitsschirm der Nato möglich wurde. Habermas und Derrida hatten recht, als sie den amerikanischen Imperialismus anprangerten, aber sie hatten unrecht, Amerika als Europas wichtigsten Partner abzulehnen.
Amerika und Europa
Während Europa Wohlfahrtsstaaten aufbaute, schuf Amerika einen Sicherheitsrahmen, der die Voraussetzungen dafür bot, dass Europa weiterhin ein soziales Paradies sein konnte. Die Amerikaner sind nicht vom Mars und die Europäer nicht von der Venus, wie Robert Kagan glaubte; Amerika füllte lediglich die Lücke des Agon, die Europa hinterlassen hatte, indem es zu sehr an die Selbstverständlichkeit des Friedens und die Selbstreproduktion der Agoras glaubte.
Der Irakkrieg von 2003 war das Ergebnis einer Demokratie, die sich selbst betrog und ihren Imperialismus hinter einer demokratischen Rhetorik verbarg. Das Jahr 2003 war das Ergebnis eines anachronistischen Selbstvertrauens – getragen von der Vorstellung vom „Ende der Geschichte“. Zwanzig Jahre später leben wir in einer anderen Realität. Die Demokratie verwandelt sich nicht länger in ein Imperium, sondern sie wird vom Imperium angegriffen. Dieses Imperium und seine autoritären Verbündeten sehen, dass die Demokratien schwach und ungeschützt sind.
Der laufende russische Krieg gegen die Ukraine ist ein Angriff auf Europa. Russland ist im Krieg mit Europa. Diese Tatsache müssen wir endlich vollständig akzeptieren und alle notwendigen Konsequenzen ziehen. Die Agora ist nicht genug. Manchmal muss man sie verteidigen und den Agon wiederbeleben. Nicht, weil man Krieg will, sondern weil der Krieg manchmal zu einem kommt.[https://www.eurozine.com/europes-two-hearts/]
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“