Essay Roma in Osteuropa: Illusion der ethnisch reinen Nationen
Viele osteuropäische Staaten glauben, Roma gehörten nicht dazu, und stecken sie in Ghettos. Dabei waren die Länder schon immer multikulturell.
U ngarn, Bulgarien, Tschechien und die Slowakei gehören derzeit zu den Ländern, die sich gemeinsam mit den baltischen Staaten und Polen am stärksten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehren und sich um politische, rechtliche und moralische Standards nicht kümmern. Nicht nur gehören diese Staaten selbst zu den Ländern, die einen hohen Anteil von Wirtschaftsmigranten in andere Länder der EU entsenden. Ungarn, Tschechien, Bulgarien, Slowakei und Rumänien sind auch die EU-Staaten, die den höchsten Anteil an Roma an der Gesamtbevölkerung aufweisen.
In alle diesen Ländern gibt es zudem viele Politiker egal welcher Couleur, die Roma nicht zu ihrer „Nation“ zählen und nichts dagegen hätten, sie loszuwerden, wie sie auch keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, um eine ethnisch reine Nation zu „verteidigen“, die so in dieser Form in keinem dieser Länder je existiert hat.
Viktor Orbán, der ungarische Premier, meinte zum Beispiel, dass irgendwer irgendwann den Ungarn die Roma aufgebürdet habe, ohne die Ungarn zu fragen, und daher wollten sie keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Orbán behauptet auch, Ungarn sei nie ein multikulturelles Land gewesen – eine völlig absurde Aussage, die trotzdem im Land geglaubt wird. Ähnliche Aussagen kann man aber auch aus anderen Ländern hören.
Vereinfacht gesprochen gibt es drei Bereiche, in denen ein Austausch zwischen verschiedenen Gruppen stattfinden kann: Nachbarschaft, Schule, Arbeitsplatz. In Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechien oder der Slowakei lässt sich aber in all diesen Bereichen in den vergangenen zwanzig Jahren eine immer stärker werdende Segregation beobachten – das heißt, dass der direkte, persönliche Kontakt zwischen Roma und Nicht-Roma zurückgeht. Das leistet wiederum Vorurteilen, Rassismus und Hassreden Vorschub, die wiederum die Ausgrenzung und die Segregation weiter verstärken.
Viele Roma leben in abgeschlossenen Gettos, das heißt, entweder in heruntergekommenen Wohnblocks und Slums in der Großstadt oder in ländlichen Siedlungen, wo es an Infrastruktur mangelt oder diese ganz fehlt. In Bulgarien gibt es Roma-Gettos, die einige zehntausend Bewohner zählen. Stadtverwaltungen investieren kaum in solche Siedlungen und wer es sich leisten kann, zieht fort.
Für behindert erklärt
ist Politikwissenschaftler, zur Zeit Koordinator „Minderheiten Westlicher Balkan“ bei der Gesellschaft für Bedrohte Völker Schweiz. Der 54-Jährige arbeitet seit Jahren zur Situation der Roma und war als Berater für verschiedene Organisationen und Regierungen tätig. Er war zuständig für Minderheitenfragen bei der OSZE-Mission im Kosovo und zudem verantwortlich für die Verfassung der Regierungsstrategie zur Integration der Roma, Ashkali und Ägypter im Kosovo.
In Ungarn und der Tschechischen Republik setzen die Regierungen im Schulwesen auf Segregation – trotz Gerichtsurteilen, die das verbieten, und weltweiten Erfahrungen mit den Nachteilen, die segregierte Schulen mit sich bringen.
In Tschechien wurden, wie in allen ehemaligen sozialistischen Ländern, ein großer Teil der Roma-Kinder über Jahrzehnte hinweg in Sonderschulen für geistig Behinderte abgeschoben. Seit Tschechien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2007 aufgefordert wurde, diese Praxis zu ändern, wurden diese Schulen in „Praktische Schulen“ umbenannt, ohne dass sich an der Situation grundlegend etwas geändert hat. Im Herbst 2014 hat die EU deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Tschechien eingeleitet.
Im Jahre 2011 wurde unter Roma aus der Slowakei und Tschechien, die jetzt in Großbritannien leben, eine nicht repräsentative Umfrage durchgeführt. Sie zeigte, dass von 61 Kindern 17 in ihrem Herkunftsland Sonderschulen besucht hatten – und 35 segregierte Einrichtungen. In Großbritannien dagegen besuchten 20 eine normale Grundschule und 39 eine weiterführende Schule. Es wundert deshalb nicht, dass die meisten Eltern angaben, eine bessere Schulausbildung für ihre Kinder sei ein Hauptgrund für ihren Umzug nach Großbritannien gewesen.
Die extrem hohe Arbeitslosigkeit in Ost- und Südosteuropa trägt zu weiterer Trennung bei; in einigen Regionen liegt die Quote bei über 90 Prozent. In Ungarn werden Arbeitslose zu „öffentlichen Arbeiten“ zwangsverpflichtet, wofür die Gemeinden zuständig sind – einige werden von Bürgermeistern der faschistischen Jobbik-Partei regiert. Die Ausgrenzung der Roma wird durch den öffentlichen Diskurs verstärkt. Hasstiraden gegen Roma sind vielerorts Alltag, bewusst werden rassistische Konnotationen hergestellt. So spricht man in Ungarn – erschreckenderweise in allen politischen Lagern – nicht von Kriminalität unter Roma, sondern von „Zigeunerkriminalität“.
Unser Autor hat das Lesen verlernt. Bücher blicken ihn an, landen auf einem Stapel, verstauben. Dabei hat er als Junge die Sätze nur so gepflückt. Lohnt sich lesen überhaupt noch? Für Sie schon: Die Geschichte einer Entfremdung finden Sie in der taz.am wochenende vom 10./11. Oktober. Außerdem: Gregor Gysi tritt kommende Woche vom Amt des Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag ab. Große Reden werden dort nun andere halten. Und er? Ein Gespräch. Und: Chinas Regierung lockert die Ein-Kind-Politik. Aber an die Vorstellung, künftig in größeren Familien zu leben, müssen sich viele erst gewöhnen. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Für kriminell erklärt
Im Frühjahr 2014 lehnte eine Richterin in Ungarn das Verbot einer rechtsradikalen Gruppierung, die regelmäßig in Roma-Vierteln demonstrierte, mit dem Argument ab, dass es „Zigeunerkriminalität“ gebe und dass „Zigeuner weniger eine ethnische Gruppe“ seien, sondern für „eine Lebensweise“ stünden, „die den traditionellen Werten der Mehrheitsgesellschaft fern steht und deren Lebensstil durch die Vermeidung von Arbeit, keinen Respekt vor Privateigentum und den Normen des Zusammenlebens charakterisiert ist“.
Daher dürfen rechtsradikale Organisationen mit Billigung der Justiz in Roma-Vierteln demonstrieren und deren Bewohner terrorisieren. In der Slowakei wird exzessive Gewalt von Polizisten gegen Roma von den meisten Politikern geduldet und entschuldigt, weil sie meinen, damit bei der Mehrheitsgesellschaft zu punkten. Und in Tschechien hat sich der sozialdemokratische Präsident Miloš Zeman öffentlich für eine getrennte Erziehung von Nicht-Roma und Roma ausgesprochen.
In einer solchen Atmosphäre, die von Politikern nahezu aller Couleur geschürt wird, ist es schwierig, selbst die bestgemeinte Integrationsstrategie umzusetzen. Politik nimmt nicht nur Stimmungen in der Bevölkerung auf, um Politik und Gesetzgebung zu gestalten. Umgekehrt formen die Gesetze und Politiker die Einstellung der Bevölkerung und fördern Ausgrenzung und Diskriminierung. In dieser gefährlichen Spirale sind die Roma und die Gesellschaften in Mittel- und Südosteuropa insgesamt gefangen.
Und gegen diese Entwicklungen können die EU-Rahmenprogramme oder nationale Strategien zur Integration der Roma wenig ausrichten. In Deutschland haben es Politik und Medien gemeinsam geschafft, dass Roma mit „Asylmissbrauch“ gleichgesetzt werden. Dabei ist eigentlich das Gegenteil der Fall: Roma werden in der Asyldiskussion von Politikern missbraucht. Denn viele von ihnen hätten sehr wohl Anspruch auf Asyl. Aber das wird ihnen verwehrt – etwa durch die Entscheidung der deutschen Bundesregierung, den Kosovo als „sicheren Herkunftsstaat“ zu deklarieren.
Vom Balkan vertrieben
Dabei wurden gerade im Kosovo 100.000 Roma, Ashkali und Balkan-Ägypter nach dem Krieg vertrieben, ihre Häuser zerstört oder besetzt. Diejenigen, die für die Vertreibung und die dabei begangenen Verbrechen verantwortlich sind, kontrollieren seit der Unabhängigkeit das Land und sind für die Diskriminierung und die Ausgrenzung der Roma verantwortlich – dafür, dass Roma keine Unterkunft und keine Arbeit bekommen und ihre Kinder nicht die Schule besuchen können.
Doch in Deutschland werden diese Verantwortlichen sogar als Zeugen dafür angeführt, dass Roma angeblich gefahrlos in den Kosovo zurückkönnen. Wir haben es uns in der Lüge bequem gemacht, die Roma aus dem Kosovo als Wirtschaftsflüchtlinge anzusehen, denn wenn wir ihre tatsächliche Lage anerkennen würden, könnten wir diese Menschen nicht wieder aus Deutschland ausweisen – dann müssten wir sie aufnehmen. So aber nehmen wir in Kauf, dass seit gut 15 Jahren Zehntausende Roma aus dem Kosovo zwischen Kosovo, Serbien und Westeuropa hin und her geschoben werden, ohne dass sie irgendwo ein Leben in Würde führen können. Die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat wird nichts an der Situation ändern – ja sie kann sogar dazu führen, dass der Kosovo noch weniger für seine Roma-Minderheit macht.
Diese Entscheidung zeigt auch, um was es Europa wirklich geht, wenn von der Integration der Roma gesprochen wird: um die Vermeidung der Migration oder Flucht von Roma nach Westeuropa. Auf die Migration der Roma hat die EU keine Antwort. So wichtig Programme wie der „EU-Rahmen zur Integration der Roma“ sind – eine tatsächliche Verbesserung wird nur dann eintreten, wenn ein anderer gesellschaftlicher Diskurs vorherrscht und Politik und Gesellschaft Roma und Sinti nicht mehr als Sündenböcke und „Manipulationsmasse“ benutzen. Das gilt auch für Deutschland.
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