Essay Grüne und Europa: Rede an die Zauderer
Bonjour Freunde, die Politik ist zurück! Ein Aufruf an die Grünen, sich hinter das Projekt Europa zu klemmen und mit ihren Kernzielen zu vereinbaren.
Die Grünen sind Teil eines deutschen Politikbetriebs, der ganz kleine Karos liebt. Provinziell ist das Denken in Koalitionsoptionen – reicht es zu R2G, geht noch Schwarz-Grün, was ist mit Jamaika? Ebenso beschränkt sind Wahlprogramme, die Wählern vorgaukeln, allfällige Herausforderungen seien noch im nationalstaatlichen Rahmen zu bewältigen.
So wie der Bundestagswahlkampf sich anlässt – „mehr Sicherheit“ bei der zusammengerauften Union, „mehr Gerechtigkeit“ bei Schulz-ernüchterten Sozialdemokraten, „noch mehr Gerechtigkeit“ bei den janusköpfigen Linken –, bleibt er auf dem Niveau eines Landtagswahlkampfes.
Bitte über den Tellerrand zu schauen. Ausgerechnet in Frankreich, das seit den 1990er Jahren zunehmend auf EU-Distanz gegangen ist und zuletzt im Dauerfeuer Marine Le Pens und Jean-Luc Mélenchons lag, ist jener Bewerber mit Aplomb in den Élysée eingezogen, der im Unterschied zu allen anderen unzweideutig für Europa und die EU gestritten hat.
Entscheidend war am Ende nicht die Frage von Arm und Reich oder oben und unten, sondern ob die französische Gesellschaft offen bleiben oder sich schließen soll. Emmanuel Macron lässt es nicht an Avancen an Berlin und Brüssel fehlen, die EU von Grund auf zu stabilisieren und neu zu gründen.
Gesichter wie drei Tage Regenwetter
Bonjour, die Politik ist zurück. Zuvor haben in den Niederlanden mit Jesse Klaver und seiner Crew ebenso europageneigte Grüne Stimmen gegen Wilders wie gegen die protektionistische Rechte und Linke gewonnen. Und in Österreich hat letztes Jahr, wenn auch knapp, mit Alexander van der Bellen ein grüner Kandidat den blau-braunen Norbert Hofer geschlagen.
Was geht also mit den Grünen, die im Titanenkampf Schulz versus Merkel gerade demoskopisch in die Knie gehen und Fernsehgesichter machen wie drei Tage Regenwetter, weil der „heiße Scheiß“ (Göring-Eckardt) anderswo läuft?
Haben sie begriffen, was die angebliche „Führerin der westlichen Welt“ und der durch die Provinz tingelnde „Mister Europa“ zu verpassen scheinen: Dass im Pariser Mai 2017 nicht nur eine nationale Präsidentschaftswahl, sondern ein europäisches Ereignis stattfand, das der EU neuen Schwung geben kann? Dass die Ära europäischer Innenpolitik auch die falsche Austeritäts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland betrifft – und sich ändern muss?
Warum nimmt man den Grünen ihre Vorschläge nicht ab?
Es besteht gerade die Chance, dass sich die Europäische Union zum Antipoden von Putin, Trump (und den Chinesen) aufschwingt, ohne dass man über eine derartige Pose gleich weltweit in Gelächter ausbricht. Folglich geht es am 24. September nicht allein darum, wie hoch der deutsche Mindestlohn, wie niedrig die deutsche Flüchtlingsobergrenze oder wie sicher die deutschen Renten sind. Sondern auch, ob Berlin und Paris samt einer Koalition der Willigen ein europäisches Projekt verfolgen.
Das Berliner Biedermeier wirkt nicht, als hätte man verstanden, was gerade auf dem Spiel steht. Zerbricht die EU unter dem Druck des autoritären Nationalismus oder geht Europa politisch (und militärisch) gestärkt aus der Krise hervor?
Von Rot-Rot-Grün träumt die linke SPD-Politikerin Angela Marquardt. Hugo Müller-Vogg ist ein konservativer Publizist, den das gruselt. Dennoch verbindet beide eine fast 20-jährige Freundschaft. In der taz.am wochenende vom 17./18. Juni reden sie über die Freude am Streit und die gemeinsame Liebe zur „Lindenstraße“. Außerdem: Genau eine Bernsteinfischerin gibt es in Deutschland. Ein Besuch auf Rügen. Und: Nestlé verändert die Rezeptur von Maggi. Ein Rundgang durch die Welt der Geschmacksverstärker und Würzsoßen. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Hier läge das Grünen-Alleinstellungsthema. Aber sie sehen es gerade nicht. Im Oktober vergangenen Jahres erschien eine „Grüne Erklärung zur Zukunft der EU“, in der viel Europa-Pathos und noch mehr Richtiges zu lesen war. Dass grüne „Kernanliegen“ nur gemeinsam zu bewältigen seien. Der Kampf gegen den Klimawandel mit einer „starken Klima- und Energieunion“, ebenso der Kampf gegen Armut nur mit „einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion“. Ebenso wie „der Kampf gegen Fluchtursachen und Terrorismus“ oder für mehr „Steuergerechtigkeit, sozial-ökologisches Wirtschaften, für mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“.
Viel Richtiges also. Doch warum nimmt man den Grünen ihre zum Teil recht präzise ausgeführten Vorschläge dafür nicht ab? Ihre Kernanliegen haben sich längst in der Gesellschaft verankert, neu wäre, den Hebel für eine gemeinsame Strategie in einer offensiven europäische Praxis zu sehen.
Steilvorlagen für einen Politikwechsel
Das Alleinstellungsmerkmal liegt auf dem Tisch, aber die Grünen und ihre Anhänger greifen nicht entschlossen genug zu. Da kämpfen die Völkisch-Autoritären der AfD gegen die EU. Da konzentriert sich Merkel auf die G 20 und Schulz auf den deutschen Wohlfahrtsstaat. Da proben Liberale die wirtschaftspolitische Restauration Westerwelle 2.0. Und die Grünen? Verharren in Schockstarre.
Statt das Vakuum für eine Klientel zu besetzen, die sich seit Wochen auf den Straßen und Plätzen für Europa ins Zeug wirft und auf eine politische Repräsentation nur wartet – ein „Wählerpotenzial“ von bis zu 20 Prozent und mehr.
Trumps Katastrophenpolitik und Erdoğans Ermächtigungsgesetz demonstrieren, wohin Nationalismus führt. Der Brexit lehrt, wozu ein populistischer Schnellschuss Europa bringt. Aber die Berliner Politiker mitsamt den Grünen ignorieren diese Steilvorlagen für einen Politikwechsel in Deutschland.
Hängt es am Generalverdacht gegen alles „Westliche“?
Man fragt sich nach Gründen für diese Europa-Abstinenz (gegen die jüngere Fraktionsmitglieder in Bundes- und Landtagen aufbegehren). Hat sie mit althergebrachten Aversionen gegen multinationale Unternehmen zu tun, die in der EU agieren? Liegt es an dem kosmopolitischen Anspruch, die Welt als Ganze zu retten? Ist die EU zu nahe an der Nato? Hängt es mit dem in postkolonialen Kreisen regierenden Generalverdacht gegen alles „Westliche“ zusammen? Wird Europa mit „liberal“ und liberal mit „neoliberal“ identifiziert? Oder sind arriviert-resignierte Fünfziger bei uns einfach außer Stande, ein politisches Feuer zu entfachen und einen Anfang zu setzen?
Meine Kritik hat mit dem üblichen Grünen-Bashing nichts zu tun, für das alles andere als ein (schon rechnerisch illusionäres) Bekenntnis zu R2G verderblich ist – angefeuert durch den vermeintlichen Wahlsieg Jeremy Corbyns, der keiner war, das Lamento eines sympathisch gescheiterten Demokraten wie Bernie Sanders und den Starrsinn eines Jean-Luc-Mélenchon, der gegen Europa den gleichen souveränistischen Kampf führt wie die Dynastie Le Pen.
Vielen Grünen scheint der Wahnsinn im Weißen Haus gerade recht gekommen, um die vorhandene Distanz zu „Amerika“, dem „Westen“ und dem „Liberalismus“ herauszustreichen.
Zweieinhalb Monate, um Begeisterung zu entfachen
Es gibt noch einen halben Juni, zwei Sommermonate und einen September-Endspurt, um sich als die Europa-Partei aufzustellen und Sympathien zurückzuholen. Statt auf (un)mögliche Koalitionen zu schielen, mit und für Europa politisch zu polarisieren. Statt Kirchentage aufzuführen, Streit anzufangen. Um in die Offensive zu gehen, Begeisterung zu entfachen und – wie es Macron gesagt und getan hat: Lust auf Zukunft machen.
Claus Leggewie ist Ludwig-Börne-Professor an der Universität Gießen. Im September erscheint im Ullstein Verlag sein Buch „Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung“.
Das wäre keine Abkehr von den grünen „Kernanliegen“. Es wäre die einzige Möglichkeit, ihnen via Europa in einer widrigen Welt Gehör zu verschaffen. Die Pferdestärken in die Parlamente zu bekommen, die außerparlamentarische Bewegungen für Nachhaltigkeit und Solidarität durchaus haben.
Alle grünen „Kernanliegen“ lassen sich europäisch subsumieren: der Klimaschutz, der sich nach dem halben Ausstieg der US-Administration nur mit einer besseren Energiepolitik der EU und durch Allianzen mit Staaten wie Kalifornien, China und Indien retten lässt. Die Verkehrswende, die ein ob seiner Autoverliebtheit rückständiges Land mit dem Realitätsprinzip konfrontiert. Der Kampf gegen Steuervermeidung und für eine Besteuerung des Finanzkapitals. Die Beseitigung des Skandals der Jugendarbeitslosigkeit.
Zauderer, ich meine: Europa zuerst! Ja zu einer nachhaltigen europäischen Bürger- und Sozialunion!
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