Essay 30 Jahre Grüne: Die Teflon-Partei
Die Grünen können nach drei Jahrzehnten scheinbar alle alten Gegensätze in sich vereinen. Wirtschaft und Umwelt, Kiffer-WG und Ökospießer. Wie ist das möglich?
Als sich Guido Westerwelle und Claudia Roth im Wahlkampf 2009 auf einem Sommerfest begegneten, kannte die Freude keine Grenzen. "Deinen Mann, den find ich so toll", sagte Roth zum FDP-Chef. "Ja, aber den kriegst du nicht", sagte Westerwelle. Die Grünen-Chefin schüttelte sich vor Lachen: "Das weiß ich doch!"
Diese Szene illustriert sehr gut, wo die Grünen sich 30 Jahre nach ihrer Gründung befinden. Sie haben das scheinbar Unmögliche geschafft: Einerseits bewahren sie stolz die Reste des Selbstbilds der "Anti-Parteien-Partei". Andererseits haben sie sieben Jahre lang eine der größten Industrienationen der Erde mitregiert.
Sie verorten sich programmatisch vage links der Mitte - und streben Koalitionen mit der Union an. Sie sagen Ja zu Hartz IV und Nein zu Sozialkürzungen. Turteleien der Co-Vorsitzenden Roth mit grünen Hassfiguren wie Westerwelle oder Günther Beckstein sind bestenfalls eine Anekdote: So ist sie halt, unsere Claudia.
Die Party: Heute feiert die Berliner Böll-Stiftung eine Ü30-Party für die Grünen. Zuvor wird aber, ganz altersgemäß, den ganzen Tag lang diskutiert. Mit Claudia Roth, Jürgen Trittin, vielen anderen alten Weggefährten und Gästen.
Die Gefeierte: Schon das ganze Jahr zelebriert die Partei Bündnis 90/Die Grünen ihren Geburtstag. Der Gründungsparteitag der "Grünen" jährte sich zwar schon am 12. und 13. Januar zum dreißigsten Mal. Doch auch darüber hinaus finden sich 2010 immer wieder neue Anlässe zum Feiern. Zum Beispiel den erstmaligen Einzug in einen Landtag: Am 16.März 1980 bekam die Partei bei den Wahlen in Baden-Württemberg 5,3 Prozent der Stimmen. Oder ihr Achtungserfolg bei den Bundestagswahlen am 5.Oktober des gleichen Jahres. Damals erzielte sie 1,5 Prozent der Stimmen.
Die Kritik gleitet ab
Doch das Erstaunlichste an diesem programmatischen und mentalen Spagat ist: Er funktioniert. Alle Kritik am Doppelgesicht der Partei gleitet ab wie an der Teflon-Beschichtung einer Bratpfanne. Meinungsumfragen bescheinigen den Grünen fantastische Zustimmungsraten. Würde in Baden-Württemberg oder Berlin am Sonntag gewählt, könnten die Grünen mit 24 beziehungsweise 27 Prozent der Stimmen rechnen.
Die Orts- und Kreisverbände wissen mitunter nicht, woher sie die erwarteten neuen Mandatsträger hernehmen sollen. Die Nachfrage nach dem Produkt "Grüne" übersteigt das Angebot.
Wieder einmal müssen sich die Ex-Alternativen fragen: Wo wollen wir hin? Hinzu kommt heute eine weitere Frage: Kann die Partei zu groß werden? So groß, dass sie an ihrem Eigengewicht erstickt?
Um das zu beantworten, müssen wir verstehen, was die Grünen fürs heutige Parteiensystem bedeuten. In mancherlei Hinsicht ähneln die Grünen des Jahres 2010 der SPD der frühen siebziger Jahre.
Damals versprachen Mitgliedschaft und Stimmabgabe für die Sozialdemokraten das gute Gefühl, progressiv zu sein. Und nicht so starr wie die anderen Parteien, nicht so anarchisch wie die Studentenbewegung. In einer Welt, der durch den Vietnamkrieg die Unterscheidbarkeit in Gute und Böse abhandengekommen war, war zumindest eines gewiss: Mit einer Stimme für die Sozis kann man nicht viel falsch machen. Ähnlich verhält es sich heute auch mit den Grünen.
Fast 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler können sich laut Infratest dimap vorstellen, den Grünen ihre Stimme zu geben. Deren potenzielle Wählerschaft ist damit fast so groß wie die von SPD und CDU/CSU. Beide kommen jeweils auf 55 Prozent. Geht es nach der gesellschaftlichen Akzeptanz, dann sind die Grünen bereits eine Volkspartei.
Traditionell alternativ
Darin liegen Chance und Problem der Grünen. Beständig wiederholt ihr Co-Vorsitzender Cem Özdemir den Anspruch, die Grünen wollten die Akademiker-Eltern aus den Altbau-Wohnungen ebenso ansprechen wie den Kiffer in der Studenten-WG. Dahinter steht die Hoffnung, dass sich das Bild der Partei, das sich in 30 bewegten Jahren herausgebildet hat, gewissermaßen konservieren lässt. Die Grünen: alternativ aus bewährter Tradition?
Die Grünen stehen in den nächsten fünf bis zehn Jahren vor großen Herausforderungen. So groß wie vielleicht nur die Entscheidung für die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg 1999. Denn in dieser Zeit wird sich erweisen müssen, ob es den Grünen möglich ist, ihren "Markenkern" von einer Generation zur nächsten zu übertragen.
Den Markenkern der Grünen bildet eine Heldengeschichte, ganz ähnlich den traditionellen Initiationsmythen und dem deutschen Bildungsroman. Deshalb ist sie einprägsam: Unser Held, anfangs unbedarft und seiner eigenen Fähigkeiten nicht sicher, geht hinaus in die Welt, um sich in Kämpfen zu bewähren. In ihnen erkennt er sein wahres Wesen. Der Held reift vom ungeduldigen Herausforderer zum weisen Herrscher, der seine Schwächen wie Stärken kennt und nach bestem Wissen und Gewissen handelt.
Die Geschichte der Grünen läuft parallel zur Lebensgeschichte ihrer Stammwähler - oder dem, was sie als solche ansehen. So können sie ihren Wandel von den K-Gruppen zur Kita-Gruppe in eine große Erzählung fassen. Das klingt romantischer als die Feststellung des Politologen Markus Klein zum 25. Parteijubiläum: "Wer sein Eigenheim abbezahlt, hat andere Prioritäten als den Systemumsturz." Diese Selbstinszenierung als Machthaber und gleichzeitiger Opponent trägt dazu bei, dass das Teflon-Image der Grünen verfängt.
Vererbbares Heldenimage?
Doch die Altersgruppe der Trittins, Künasts und Roths wird die aktive Politik in den kommenden Jahren verlassen. Lässt sich dieser "lange Lauf zu mir selbst", den Joschka Fischer am eindrücklichsten vorgemacht hat, einfach von einer Politikergeneration auf die nächste übertragen? Ist das Partei-Image, unter schmerzhaften Irrungen zur Vernunft gereift zu sein, vererbbar?
Die Grünen hat nicht das noch vor zehn Jahren prophezeite Schicksal ereilt, als "Ein-Generationen-Partei" zu verdorren. Heute sitzen in den Kreis- und Landtagen, im Bundestag und im Parteirat auch viele Menschen in ihren Zwanzigern und frühen Dreißigern. Strebsame, fachlich versierte und pragmatische Experten, die Zehn-Sekunden-Statements fürs Fernsehen abspulen können, aber auch detailreich die moralische Verwerflichkeit der Energiekonzerne beim Emissionshandel geißeln.
Die Heldenreise seiner Vorgänger kann der Nachwuchs nicht vorweisen. Zieht man diese ab, wird offenbar: In vielen Punkten ähneln Grüne und FDP einander mehr, als beiden lieb sein kann: Beim Datenschutz, Minderheiten- und Bürgerrechten sowie der Notwendigkeit langfristig stabiler Haushalte unterscheiden sich ihre Ansichten kaum voneinander.
Fast unmerklich haben die Grünen in der Wählerwahrnehmung ein einst zentrales Merkmal der FDP gekapert: Die einstigen Spinner, nicht die Männer im Maßanzug gelten heute als die Partei der Vernunft. Es war wirklich eine lange Reise.
Vom Zeitgeist gehätschelt
Dieser Umstand ist deshalb bemerkenswert, weil er viel aussagt über die Bedeutung von öffentlichen Images. FDP und Grüne gelten als grundverschieden, doch trifft das weniger für einen Großteil ihrer politischen Inhalte zu als vielmehr für die Mentalitäten ihrer Mitglieder und Wähler.
Die öffentliche Wahrnehmung könnte kaum unterschiedlicher sein: Die FDP müht sich seit Jahren vergeblich, das 28 Jahre alte Image der Umfallerpartei abzuschütteln. Die Grünen koalieren in den Ländern wahlweise mit SPD, CDU oder FDP - und erhalten Applaus für ihren "Kurs der inhaltlichen Eigenständigkeit". Der Zeitgeist hätschelt die Grünen.
Also: Wohin geht es mit dieser Partei? Wird die breite öffentliche Zustimmung sie behäbig und selbstgerecht werden lassen - wie es einst der SPD widerfuhr? Die begann nach ihren ersten Regierungsjahren zu glauben, sie habe ein Abonnement aufs Fortschrittlichsein. Wozu diese Haltung geführt hat, ist bekannt.
Die Grünen haben die Chance, es besser zu machen. In ihren Reihen ist ein erstaunliches Arbeitsethos verbreitet, eine noch immer in anderen Parteien undenkbare Diskussionsfreude und ein Wille zur Veränderung. Nennenswerte Korruptionsskandale haben die Grünen erstaunlicherweise bislang nicht vorzuweisen. Darüber hinaus haben es die Grünen heute mit einem ganz anderen gesellschaftlichen Umfeld zu tun als vor 30 oder 20 Jahren.
Ihre große Chance ist es, in einer Welt der erneut bröckelnden Gewissheiten Orientierung anzubieten: Wie der Vietnamkrieg vor 40 Jahren und das Ende des Kalten Krieges vor 20 Jahren Weltbilder zerstörte, so bringen heute der Beinahezusammenbruch der Weltwirtschaft und der Klimawandel alte Gewissheiten ins Wanken.
Die Grünen nehmen diese Unsicherheit auf. Wer sich ihnen zuwendet, hat das Gefühl: Viel falsch machen kann ich da nicht. Um diese Hoffnungen nicht zu enttäuschen, muss die Partei sich erneut wandeln. Ihr Ziel: die Vereinigung von Ökologie und Ökonomie. Wenn es ihr gelingt, als wirtschaftlich kompetent dazustehen, werden sich ihr weitere Wählerschichten erschließen: die Facharbeiter und Angestellten, die in jedem Wirtschaftsabschwung um ihre Jobs fürchten müssen. Dann ist die Heldenreise endgültig abgeschlossen.
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