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■ Algerien: Der politische Islam ist eine Komponente der Gesellschaft. Seine Unterdrückung führt in eine Sackgasse„Es ist ein Krieg des Zerfalls“

taz: Nachdem die Front Islamique du Salut (FIS) Ende 1991 den ersten Wahlgang gewann, wurden die Parlamentswahlen in Algerien abgebrochen und eine Militärdiktatur errichtet. Sie sprachen sich von Anfang an gegen den Staatsstreich aus. Sie plädieren für einen Dialog mit der FIS. Weshalb?

Louisa Hanoune: Die universelle Dimension der Demokratie besteht nicht nur darin, sein eigenes Recht auszudrücken. Das Recht, seine Meinung sagen zu können, gilt für alle. Man bereitet die Repression gegen alle politischen Strömungen vor, die eigene mit eingeschlossen, wenn man zuläßt, auch nur einen Standpunkt zu unterdrücken. Die FIS wurde Anfang 1992 verboten. Meine Partei und ich waren dagegen, weil wir das Mehrparteiensystem, nicht weil wir das Programm des FIS verteidigen. Nun, fünf Jahre später, sind alle politischen Parteien durch ein neues Gesetz bedroht.

Welche Rolle spielt der Islamismus in der algerischen Gesellschaft?

Die Islamisten sind eine Komponente unserer Gesellschaft. Wie es im Westen Parteien gibt, die mit der Christdemokratie verbunden sind, existiert der politische Islam in Algerien mindestens seit Anfang der 20er Jahre in der Form moderner Parteien. Akzeptieren, daß diese unterdrückt werden, heißt akzeptieren, daß man eine Komponente der Gesellschaft zum Schweigen bringt. Algerierinnen und Algerier erkennen sich in der islamistischen Bewegung. Sie haben das Recht, so zu denken und sich zu organisieren. Wenn ich dieses Recht nicht anerkenne, verrate ich die elementaren Prinzipien der Demokratie. Wir haben heute den Beweis: Wenn man den politischen Spielraum schließt für einen Teil der Bevölkerung und diese zudem völlig unterdrückt, drängt man sie dazu, die Konfrontation der Ideen durch die Sprache der Waffen zu ersetzen, was auch immer ihre politische Ausrichtung ist.

Staatspräsident Liamine Zeroual tritt für die Ausrottung der bewaffneten Islamisten ein. Wer heute in Algerien von Dialog spricht, gilt als SympathisantIn von Terroristen.

Ja. Das sind Klischees, sehr gefährliche Abkürzungen, die angewendet werden seit dem Abbruch der Parlamentswahlen Ende 1991. Damit soll die Stille rund um die Verletzungen der Menschenrechte gerechtfertigt und jede politisch positive Lösung verhindert werden. Jene, die das in Algerien sagten und im Ausland auf Gehör stießen, sind Leute, die den Staatsstreich begrüßt und gerechtfertigt haben. Sie erklärten, um eine islamische Republik zu verhindern, müsse man eine Militärdiktatur akzeptieren, wie wenn diese Rechte oder die Demokratie garantieren könnte. Das Gegenteil ist jetzt bewiesen. Eine Diktatur bleibt eine Diktatur. Die sogenannten Terroristen sind nicht einfach vom Himmel gefallen, sie sind das Resultat einer gegebenen Politik.

Aber auch zahlreiche Demokraten sind für ein Verbot der Islamisten.

Diese sogenannten Demokraten unterstützen ein Militärregime, weil sie für eine Republik sind. Das ist eine völlige Geistesverwirrung, die uns sehr viel Leid zufügt. Denn jedesmal, wenn wir eine Initiative ergriffen und versuchten, eine Lösung zu finden, um die einen und andern zur Vernunft zu bringen, erhoben sich diese Stimmen, um uns zum Schweigen zu bringen. Dazu gehört das Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD). Es gibt auch Frauen, auch Feministinnen, die überall in Europa erzählen, daß die Frauen die Verbündeten des Regimes sind, wie Khalida Messaoudi, Lella Aslaoul und Saida Benhabilas.

Die Konfliktlinien werden immer unübersichtlicher – wer kämpft gegen wen?

Heute gibt es die verschiedensten Akteure im Konflikt, der Algerien zerreißt. Es gibt auch Milizen, die von der Regierung bewaffnet wurden. Sie werden von den politischen Strömungen unterstützt, die sich demokratisch nennen und die für die Fortsetzung des Krieges sind. Alle Arten von Banden profitieren von dieser Situation des Chaos. Es gibt Kreise, die materielle und politische Interessen zu verteidigen haben. Der Terror erlaubte ihnen, einen Platz einzunehmen, den sie in Demokratie und Frieden nie haben könnten. Diese Leute kümmern sich nicht darum, was die Mehrheit der Bevölkerung seit fünf Jahren erleidet. Sie haben sich riesige Reichtümer angehäuft.

Wie definieren Sie diesen Krieg? Die einen halten ihn für einen Bürgerkrieg, die Regierung spricht vom „Restterrorismus“.

Für mich handelt es sich um einen Krieg des sozialen Zerfalls. Wenn man von Bürgerkrieg spricht, erinnert das an den Spanischen Bürgerkrieg, an den Kampf gegen den Faschismus. Algerien hat damit aber nichts zu tun. Die islamistische Bewegung hat etwas von einer populistischen Partei. Sie gleicht etwas dem Peronismus in Argentinien, zumindest einige Aspekte davon. Diese Gruppierungen sind Ausdruck der Hoffnungslosigkeit, weil die Bevölkerung keinen Zugang zu Konsumgütern hat wie im Westen. Der Zugang zu Bildung, zu einem besseren Leben ist ihr verschlossen. Sie flüchten sich in die Religion. Und dies gilt nicht nur für die muslimischen Länder. In einem Bürgerkrieg kann man das Lager wählen. Dieser Krieg ist das Resultat einer schrecklichen Sackgasse.

Weil die Führung der FIS, die vielleicht diese Bewegung hätte führen können, im Gefängnis ist, haben diese bewaffneten Gruppen keine politische Leitung. Die Gruppen haben sich schließlich zersplittert. Dazu kommt eine Auflösung des sozialen Netzes. Ich nenne es einen „Krieg des Zerfalls“, weil nichts einem bewaffneten Mann mehr gleicht als ein anderer bewaffneter Mann. Daher gibt es eine Konfusion zwischen den wirklichen und falschen Straßensperren, falschen Islamisten, falschen Polizisten. Es ist eine Situation, die zu den schlimmsten Abrechnungen führt, ein Krieg ohne Ausweg. Am Ende des Unabhängigkeitskrieges gab es für uns die Möglichkeit, eine Nation zu gewinnen. Am Ende dieses Krieges zeichnet sich der Verlust dieser Nation ab, als territoriale Einheit, als Volk, als Geschichte.

Die Führung behauptete, der Krieg sei so gut wie beendet.

Sie hat bestimmt, daß der Terrorismus dank eines Zauberstabs ein Restterrorismus sei. Dieser Diskurs richtet sich an das Ausland, an die internationalen Finanzinstitute, an die Großmächte, die der Regierung Kredite geben. Sie sollen dem Regime vertrauen, damit die Regierenden selbst an der Macht bleiben, während jeden Tag Menschen ermordet werden. Interview: Annegret Mathari

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