■ Es ist bei weitem kein Sommertheater: Die beiden regierenden Parteien stecken in einer tiefen programmatischen Krise: Machbarkeit und Identitätsrituale
Das Spektakel von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen um Steuersätze und Benzinpreise, Renten und Restlaufzeiten ist mehr als bloßes Sommertheater. Beide Koalitionspartner befinden sich in einer tiefen programmatischen Krise. Während die SPD versucht, sich ihrer Tradition durch den Fetisch der Mitte zu entledigen, werden die Grünen von ihrer Geschichte eingeholt.
Schröders rot-grüne Koalition muss auf Konsens setzen, weil ihr die Identifizierung mit politischen Zielen fehlt. Nicht umsonst hat sich die SPD einen Mann ohne Eigenschaften (und Vater), einen Parvenü mit Zigarre, einen im verräterischen Sinne des Wortes „Auto-Mann“ als Parteivorsitzenden erkoren. Schröders Auto- (griechisch: selbst) Verliebtheit ohne ernsthafte Wertvorstellungen spiegelt die Beliebigkeit politischer Ideen und Vorstellungen seiner Partei, die fragmentiert nebeneinander existieren: anything goes – sofern der tagespolitische Erfolg garantiert scheint.
„Der Gegenwartskanzler“ repräsentiert seine Person ebenso treffend wie seine Partei: Die Leugnung der eigenen – persönlichen wie politischen – Herkunft und die daraus folgende Unfähigkeit, Geschichtsbewusstsein in Zukunftsentwürfe zu integrieren, trifft Person wie Partei gleichermaßen: Verachtung der eigenen Tradition und Werte mündet aus in der Beliebigkeit des reaktiven Tagesgeschäfts, das infolge eigener Geschichtslosigkeit jeder Orientierung entbehrt.
Demgegenüber werden die Grünen von ihrer Vergangenheit eingeholt. Hervorgegangen aus so unterschiedlichen Oppositionsströmungen wie den zerfallenen linken Splittergruppen der Nach-68er, den Bürgerinitiativen, der Frauen-, Anti-AKW- und der Friedensbewegung definierte man sich über Widerstand gegen AKWs, Gorleben, die Nato-Nachrüstung oder Startbahn West. Konsequenterweise verstanden sich die Grünen lange als Nicht-Partei – eine Negativ-Definition, aus der kaum konzeptionelle Alternativen hervorgingen.
Auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte existiert innerhalb der Grünen bis heute tiefes Misstrauen gegenüber der Machtfrage. In paranoider Weise wird Machtausübung mit ihrem Missbrauch und der Zersetzung der Integrität ihrer Repräsentanten gleichgesetzt. Der Versuch, durch zwanghafte Rituale wie Trennung von Mandat und Amt, Proporz, Geschlechterquote, Doppelspitze das inhaltliche Problem eventuellen Machtmissbrauchs formal zu lösen, produziert am Ende das gefürchtete Problem. Denn in Ermangelung eines gewählten Parteivorsitzenden wird Joschka Fischer zum demokratisch nicht legitimierten Parteichef. Die Zwangsvorstellung, von undemokratischer, autokratischer Macht auch in den eigenen Reihen bedroht zu sein, produziert am Ende das befürchtete Problem.
Eine beherzte Reform der Parteistrukturen mit klaren Entscheidungswegen, kompetenter Vermittlung der Konzepte durch hierzu befugte Personen könnte die Integration schaffen, die das Proporzsystem nie leistete. Tatsächlich werden integrative Funktionsträger mit Autorität benötigt, um interne Diskussionsforen bereitzuhalten und öffentliche Auseinandersetzungen zu unterbinden. Solange jedoch Autorität traditionell negativ gesehen wird, kann sie als konstruktive Macht intern wie extern zur Bewältigung der Krise nicht zur Verfügung stehen. Herrscht bei der SPD Hypertrophie der Kanzler-Attrappe, fürchten die Grünen jede charismatische Autorität.
Angesichts des Kosovo-Krieges wurden die Grünen erneut von ihrer jüngsten und der nicht verarbeiteten deutschen Vergangenheit eingeholt. Befürworter wie Gegner des Krieges diskutierten augenblicklich und in Verkennung der historischen Dimensionen das Auschwitz-Trauma. Vorschnell und in Relativierung der historischen Ausmaße machte Joschka Fischer Auschwitz im Kosovo aus, derweil die Interventionsgegner der Parole frönten, es dürfe niemals mehr von deutschem Boden Krieg ausgehen (was ja auch nicht geschah, denn dieser fand längst statt).
Vermieden wurde in der emotionalisierten Debatte die von Verantwortung getragene Frage, welche Rest-Optionen angesichts der entstandenen Lage die größtmögliche Wahrscheinlichkeit zur Eindämmung von Völkermord und Völkervertreibung bieten könnte. Weder die rasche Legitimation einer Intervention wegen Auschwitz noch ihre Ablehnung – wiederum wegen Auschwitz – gewährleistete diese von Vernunft und Verantwortung geprägte Position. Abgewehrt wurde die schmerzliche Erkenntnis, dass jede politische Entscheidung mit Schuld verbunden ist. Die vormalige Haltung der Fundamentalopposition gewährleistete diese Vermeidung reifer Verantwortung zum Zweck der Abwehr von Schuld.
„Nie wieder Auschwitz“ bedeutet keineswegs nie wieder Schuld. Eine Überwindung und ein verantwortlicher Umgang mit dem Auschwitz-Trauma bedeutet vielmehr das Anerkenntnis begrenzter Schuld und die verantwortliche Akzeptanz der politischen Schuldfrage.
Fundamentalopposition wiegt sich in der Position der Unschuld, gereifte Identität zeigt sich im Bewusstsein, nicht schuldfrei bleiben zu können, aber sein Bestes zu tun, um sich für humane, soziale und ökologische Lebenswelten einzusetzen. Und dabei doch Fehler zu machen. Zwischen der Skylla der Idealitätsträume und der Charybdis des Machbarkeitsideals liegt das Land der Entwürfe und der Fragen, wie wir in Zukunft leben wollen. Und die gilt es zu vermitteln.
Bevor man Thesen- und Strategiepapiere zirkulieren lässt, sind Inhalte zu kären. Die politischen Konzepte, die einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln sind, betreffen im Wesentlichen die alte sokratische Frage: „Wie wollen wir leben?“ Darzustellen sind ausgereifte alternative Konzepte und Vorschläge, deren Attraktivität gegenüber dem Bestehenden zu vermitteln ist. Auch hier geht es um das Heraustreten aus der traditionellen Nein-Identität: Statt öffentlicher Debatten um Restlaufzeiten von AKWs sind attraktive Alternativen darzustellen, also zum Beispiel die Förderung und der Ausbau alternativer Energiequellen. Statt immer neuer kurzlebiger Papiere über Steuerreformpläne und wirtschaftsfreundliche Ökosteuern sind umfassende Konzepte zur Alters- und Rentensicherung und zur Allianz von ökologischen Vorhaben und innovativen Wirtschaftsprojekten vorzuschlagen. Die aktionistische Flickschusterei der gegenwärtigen Regierung kann nur durch umfassende Konzepte überzeugend überwunden werden. Nicht rascher Konsens, sondern grundsätzliche Aussagen über die politische Richtung und ihre Attraktivität sind vonnöten.
Micha Hilgers
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