: „Es ist Krieg, da muß es Opfer geben“
Bei den jungen Palästinensern im autonomen Gaza-Streifen stoßen die Hamas-Bomben gegen Israel auf Verständnis. Arafat hingegen könnte sich bald zwischen allen Stühlen wiederfinden ■ Aus Gaza Georg Baltissen
Hupende Autos auf der „Thalatin“, der ehemals 30 Meter breiten Straße in Gazas Nobelviertel Rimail, machen morgens ab sechs Uhr immer noch jeden Wecker zu einem unnützen Luxusgegenstand. Und wer Arbeit hat, ist unüberhörbar auch auf dem Weg dorthin. Weit mehr als die Hälfte der Arbeiter im Gaza-Streifen aber hat in diesen Tagen nichts zu tun. Selbst die Geschäfte öffnen später, und nicht wenige bleiben ganz geschlossen. Seit dem 25. Februar ist das autonome palästinensische Gebiet wieder einmal abgeriegelt. Der israelische Checkpoint Erez an der Grenze zum Gaza-Streifen, wo sich sonst Tausende palästinensische Arbeiter durch die Kontrollen drängen, ist verlassen.
Viele Bewohner rechneten am vergangenen Montag, nach dem letzten palästinensischen Selbstmordanschlag in Tel Aviv, mit israelischer Vergeltung. „Von den Israelis sind wir nichts anderes gewöhnt“, sagt der 33jährige Hani al- Mughrabi, der mit seiner fünfköpfigen Familie im Flüchtlingslager lebt. „Hamas ist im Krieg mit Israel und Israel mit Hamas. Da muß es Opfer geben.“
Die Hamas-Anschläge gelten hier als gerechte Vergeltung dafür, daß der israelische Geheimdienst den Hamas-Bombenbauer Jahja Ajasch in die Luft sprengte. Der „Ingenieur“ ist jetzt im Gaza-Streifen ein Volksheld. Arafat konnte gar nicht anders als sein Begräbnis organisieren und den Eltern sein Beileid aussprechen, meint ein PLO-Führer. Niemals hätte er bei den Wahlen zum Autonomiepräsidenten 88 Prozent der Stimmen erhalten, wenn er sich gegen Ajasch gestellt hätte.
Aber jetzt, wo Arafat seine Polizei gegen Hamas losschickt, könnte das anders werden. „In drei Monaten sind Kommunalwahlen“, warnt der 20jährige Lu'ay al- Amassy, Student der Agrarwissenschaften an der Islamischen Universität von Gaza: „Dann wähle ich Hamas.“ Seine Kritik an der Polizeirazzia in der Universität vor wenigen Tagen ist dabei eher zurückhaltend. „Sie hätten die Verantwortlichen nach den Schlüsseln fragen und nicht gleich die Türen eintreten sollen“, sagt er. „Und sie hätten auch keine Bücher zerreißen müssen.“
Die meisten der festgenommenen Studenten sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Suleiman, 19jähriger Anglistikstudent, ist uneingeschränkt für Hamas. Auf die Frage, ob er sich Hamas anschließen würde, blickt er vorsichtig um sich und murmelt: „Wo ist der Geheimdienst?“ Ein anderer Student kann seiner Empörung kaum Herr werden: „Hamas hat in der Intifada gegen Israel gekämpft, und sie kämpft jetzt wieder gegen Israel. Worin besteht ihr Verbrechen?“
Seit die israelische Polizei ermittelt hat, daß der Attentäter über einen Warenumschlagplatz ins Land geschmuggelt wurde, ist die Ein- und Ausfuhr jedweder Güter nach und von Gaza unterbunden. Das Brot ist knapp geworden, weil das Mehl fehlt, und es mangelt an Mineralwasser, das wegen des Salzgehalts des Leitungswassers für Kleinkinder unentbehrlich ist. Einige Pizzerien haben aus Mangel an Mehl und Käse ihre Pforten dichtgemacht. Und den Ärmeren ist das Geld ohnehin längst ausgegangen. Dabei ist manches auch wirklich billig geworden: Einen Lastwagen voller Tomaten gibt es in diesen Tagen schon für einen Dollar. Das Obst und Gemüse verrottet in den Gewächshäusern. Der wirtschaftliche Verlust pro Tag wird von unabhängigen Wissenschaftlern auf mindestens eine Million, von palästinensischen Experten sogar auf mehr als 1,5 Millionen Dollar pro Tag geschätzt. Die Euphorie, die im Gaza-Streifen nach dem Oslo-Abkommen von 1993 einen regelrechten Boom auslöste, ist ohnehin längst verflogen. Viele Gebäude in der Stadt sind im Rohbau steckengeblieben.
Arafat bleibt seinerseits nicht untätig. Rechtzeitig vor der konstituierenden Sitzung des neugewählten Autonomierates ließ er Mitte vergangener Woche in Gaza eine Demonstration gegen „Gewalt und Terror“ organisieren. Zehntausende versammelten sich vor dem Parlamentsgebäude in Gaza. 84 Imame – Vorbeter in den Moscheen – hat Arafat inzwischen austauschen lassen, um der Hamas das ideologische Fundament auszutrocknen. Aber die Mehrheit im Gaza-Streifen – und die Mehrheit sind Jugendliche und Kinder – wird ihr Verständnis für die Gewalttaten von Hamas nicht verlieren, solange die Gewalt der kollektiven Absperrungen, des Landraubs durch die Siedlungen und der extralegalen Hinrichtungen nicht ebenfalls ein Ende findet.
Am Nachmittag fährt ein Wagen durch Gaza. Aus seinem Lautsprecher tönen keine Parolen, nur ein Name: Jahja Ajasch, Jahja Ajasch ...
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