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Es hat uns kalt erwischt

■ Sein „Woyzeck“ an der Ostberliner Volksbühne steht jetzt auf dem Programm des 29.Theatertreffens Berlin Simone Schneider unterhielt sich mit Andreas Kriegenburg, dem Regisseur der umstrittenen Inszenierung

taz: Kam die Einladung zum Theatertreffen überraschend?

Andreas Kriegenburg: Ja. Damit habe ich nicht gerechnet.

„Woyzeck“, Ihre erste Inszenierung in Berlin, rief sehr heftige und darin gegenteilige Reaktionen hervor. Wie erklären Sie sich das?

Ohne Koketterie, das ist mir in beiden Extremen fremd und eigentlich unverständlich. Die Probenarbeit hatte eine große Intimität und Abgeschlossenheit. Die Situation des sich Kennenlernens war wichtiger als das Nachdenken über die Wirkungsmechanismen der Arbeit. Letztendlich kam die Böswilligkeit des Publikums in der Generalprobe für mich und das Spielensemble ausgesprochen überraschend. Es hat uns kalt erwischt.

Haben Sie dennoch eine Vermutung, was die Zuschauer provoziert haben könnte?

Die Inszenierung konfrontiert jeden einzelnen im Publikum mit der Situation des Alleinseins. Ein Gefühl von Solidarisierung oder Gemeinschaft entsteht nicht. Das war, zumindest in der DDR, wichtig: die Möglichkeit einer Solidarisierung über einen Gedanken, einen Witz, eine Skurrilität oder meinetwegen auch über einen Schock. Doch der Zustand, einzeln zu sein, wird einem sehr selten bewußt - und genau das passiert.

Sie waren vier Jahre am Kleist- Theater in Frankfurt an der Oder. Ist „Woyzeck“ eine Fortsetzung Ihrer Arbeit dort?

Woyzeck hat sicherlich eine Ähnlichkeit mit meiner Medea-Arbeit bezüglich der Grundvereinbarung zwischen Bühne und Publikum. Das Geschehen auf der Bühne bezieht seine Potenz oder Kraft nicht direkt aus dem Zuschauerraum, sondern es hat eine große Autonomie. Dieses Fremdheitsgefühl gegenüber dem, der unten sitzt, war in der Medea ähnlich. Die Inszenierung hatte eine ähnliche Abgeschlossenheit in der Poesie und in der Vorsicht der Erzählweise. Auch in der Konzentration der Schauspieler aufeinander, in dem ganz zurückgedrängten Sendungs- oder Wirkungsbewußtsein. Ich habe meine Vorstellung vom Publikum verloren, was ursächlich damit zusammenhängt, daß meine Vorstellung von DDR nicht mehr existiert. Allein schon der Gedanke, daß der, der jetzt ins Theater geht, 15 DM bezahlen muß und nicht mehr 5 Ostmark, war eine Veränderung der Grundsituation.

Die Abgeschlossenheit der Bühne gegenüber dem Publikum ist also eine Reaktion auf ein Zeitphänomen, auf die Wende?

Man muß man den ganzen Komplex der Wende größer denken. Mit der Währungs- und Landesunion, also dem Zusammenwachsen von zwei unterschiedlichen Ländern, gab es im Osten eine große Irritation des Gewesenen. Die stabilen Größen, die einen umgeben hatten, mußten in Frage gestellt werden. Die stabile Größe für mich ist ja das Publikum, dem ich etwas von mir erzählen will. Wenn das, was einen umgibt, soweit irritiert ist, kommt als erster Schutzimpuls der Rückzug auf das Überschaubare. Das Überschaubare ist in diesem Moment die Konstellation auf der Probe. Hier gibt es noch eine Möglichkeit von Harmonie, Solidarisierung und Konfliktkonkretion, man versucht, in dem Wirrwarr einen Gegenpol zu setzen. Die Mauer trennte ja auch zwei verschiedene Lebenstempi. Während West- Berlin erfolgreich am Verschwinden der Nacht gearbeitet hat, gab es in Ost-Berlin ab elf Uhr die Nacht und ab fünf Uhr begann der nächste Arbeitstag. Wenn es aber keinen Tag- und Nachtwechsel mehr gibt, besteht auch nicht mehr die Möglichkeit, den Unterschied zu erleben. Davon war schon die Arbeit an der Medea sehr stark geprägt, von diesem Bedürfnis zu verlangsamen, sich auf der Bühne Zeit zu schaffen, damit Leute sich noch einmal begegnen.

Könnte sich dieses Verhältnis Bühne/Publikum verändern?

Es ist ja kein festgefügter Zustand, was ich beschreibe. Bei einer anderen Bühnenarbeit, die ich in Frankfurt gemacht habe, Liebe Jelena Sergewna, schrieb die Presse, das wäre ein Aufschrei nach Wahrhaftigkeit. Und es war auch eine sehr laute und sehr böse Inszenierung, die versucht hat, Leute zu warnen und einen Schock hervorzurufen, der die beschriebene Situation bewußt macht. Das war eine Inszenierung mit einer direkten politischen Aussage.

Bezog sie sich auf ein konkretes politisches Ereignis?

Ja. Um mal, was sicher in der Vereinfachung scheußlich klingt, den Schluß zu beschreiben: Der Schluß war die zauberhafte Aufnahme, wie Wohlrabe und Konsorten nach der Wiedervereinigung vor dem Schöneberger Rathaus das Deutschlandlied absingen, also so böswillige Bierscheußlichkeit, daß es einem die Schuhe auszieht. Dazu wurde parallel Musik von Bulat Okutschava gespielt, und die Schauspieler wandten sich lustvoll stöhnend auf der Bühne. Dann gab es da einen Plattensprung, und die Szene wurde immer wiederholt. Es konnte gar nicht mehr scheußlich genug sein. In der Trivialität hatte das erst einmal eine ganz große Eindeutigkeit. Eine Eindeutigkeit, zu der ich jetzt überhaupt nicht mehr im Stande wäre.

Seit Anfang dieser Spielzeit sind sie als Hausregisseur an der Volksbühne engagiert. Was verändert sich dadurch für Ihre Arbeit?

Es ist einfach eine andere Situation zu wissen, daß aus drei oder dreieinhalb Millionen potentieller Zuschauer sich sicherlich einige finden werden, die sich für das interessieren, was ich mache. Insofern ist der Woyzeck formal viel strenger und viel kapriziöser als alles, was ich in Frankfurt gemacht habe. In Frankfurt standen die Arbeiten auch viel mehr unter dem Versuch, den Schauspieler in eine Natürlichkeit hinein zu befreien. Das war hier unwichtig, hier gibt es ein viel stärkeres Selbstbewußtsein. Für mich ist viel spannender, dieses Fundament von Natürlichkeit und großer Eigenständigkeit der Leute auf der Bühne wieder zu disziplinieren.

Um beim „Woyzeck“ zu bleiben: In dieser Inszenierung gibt es keinen „armen Woyzeck“. Woyzeck ist eine Negativfigur.

Also erstmal war mein Ansatz natürlich: Woyzeck, das ist einer wie jeder. Es gibt keine Trennung, ich will ihn nicht vereinzeln auf der Bühne, indem ich sage, der macht ja nichts — wir machen ja alle nichts. Er ist aber auch keine Positivfigur, das ist für mich wichtiger gewesen. Woyzeck ist sicher lesbar als Schicksalstragödie und sicher auch als Analyse des Wirkens gesellschaftlich repressiver Prozesse auf eine Persönlichkeit, die jemanden in die Paranoia oder in den Wahnsinn treiben. Mich interessiert die Gewöhnlichkeit von Woyzeck. Er ist kein Held, er ist ein Malocher.

Woyzeck wird als dressierte Kreatur vorgeführt. Wo hätte er denn die Entscheidungsfreiheit, anders zu handeln?

Hat er sie bei Büchner? Er wird permanent in eine für ihn demütigende Situation gebracht, die er jedesmal akzeptiert. Das ist ja die böswillige Dimension des Stückes, daß kein Widerstand drin ist. Es gab zwei Sätze innerhalb der Konzeption, von denen aus ich versucht habe zu assoziieren, was mich interessiert. Davon war der eine, daß dieses Stück 150 Jahre vor der ersten deutschen Revolution oder vor dem ersten deutschen Widerstand gegen die Hierarchie geschrieben wird. Ausgehend von der Situation „Woyzeck“ braucht es wenigstens 150 Jahre Zuspitzung, bis mal was passiert. Der zweite Gedanke war, daß das, was der Hauptmann als „Philosophie“ abfertigt und was von Woyzeck oft sozial einfältig, aber darin klarsichtig formuliert wird, eine permanente Entschuldigung beim Hauptmann ist, die seine Unfähigkeit und Unfertigkeit rechtfertigen soll. Das ist sicher nur eine Lesart, aber ich lese es tatsächlich bei Büchner — da gibts keinen, der sich wehrt.

Ein Grundmotiv der Inszenierung ist die Zusammenrottung der doch eigentlich sehr vereinzelten Figuren zu einem mordenden Kollektiv, dem auch Woyzeck angehört. Welche Erfahrungen fließen in diese Interpretation ein?

Da gibt es die Szenen mit den sieben Schwaben, die den Juden an die Wand spießen. Die ist entstanden drei Tage nach Hoyerswerda. Die thematische Eingrenzung dieser Szene aus direktem Anlaß stimmt aber auch für länger, weil sie keine Behauptung ist, sondern übernommene, sicher variierte Tatsächlichkeit. Natürlich läßt es sich jetzt nicht an dem Juden festmachen, was Ausgrenzung bedeutet, weil dieses Spiel von Ausgrenzung innerhalb der Gruppe der Deutschen auch passiert, nur daß sie sich in dem Moment, wo der andere da ist, sofort verbünden.

Auffallend im „Woyzeck“ ist, daß die Figuren nur selten Sätze sprechen. Manchmal kommunizieren sie in Tierlauten, oftmals singen sie.

Es gibt ja einen großen Verschleiß im Wort. Und es gibt im Wort immer eine Barriere, emotional zu reagieren. Die Formulierung eines Gedankens oder einer Emotion ist natürlich immer der Vorgang des Beschneidens. In dem Moment, wo ich versuche, eine emotionale Äußerung zu tun, versagt die Sprache. Wenn jemand anfängt zu singen, hat das immer erst mal eine vor allem emotionale Ebene, und weniger eine informative. Das ist der Vorteil der Oper gegenüber dem Sprechtheater. Das passiert genauso, wenn ich Sprache des Sinns entleere. Eine ganz wichtige Szene ist die zwischen Marie und Woyzeck. Nachdem Marie das sexuelle Erlebnis mit dem Tambourmajor hatte, versuchen sie, miteinander zu streiten, in deutscher Sprache. Doch dann benutzen sie aus der nicht stattfindenen Annäherung oder aus dem Unverständnis heraus fremde Sprachen, Phantasiesprachen, um zu erklären, was sie fühlen.

„Woyzeck“ war einem Schauermärchen nicht unähnlich. Wollen Sie Geschichten erzählen?

Ja, würde ich schon ganz gerne, auch mit der Einschränkung, die darin liegt. Bei Woyzeck ist das Problem, daß das Material ein Fragment ist. Ich habe versucht, einen Beginn und ein Ende zu finden, also eine durchgehende Geschichte zu erzählen, die natürlich in ihrer Erzählweise keinen Realismus hat. Vielleicht nur in dem Sinne, daß man mit dem Publikum auf derselben, ununterbrochenen Assoziationsebene arbeitet. Aber das ist wahnsinnig schwer. Wollen würde ich das schon gern, aber es fehlt mir an der Möglichkeit, die Geschichte im Stück zusammen zu bringen mit dem, was mich und das Ensemble in der Situation des Machens umgibt.

Beinhalten Gegenwartsstücke diese Möglichkeit nicht?

Das kann ich so pauschal nicht sagen. Ein wesentlicher Impuls von Arbeit ist ja immer, daß man versucht, sich in der Distanz zwischen dem Autor und sich selbst zurechtzufinden, also in der zeitlichen Distanz, in der Denkentfernung, in der Fremdheit. Die ist natürlich bei meinem Nachbarn, der ein Stück

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schreibt, viel geringer. Das klingt sehr eitel, aber es ist eher ein praktisches Problem. In dem Moment, wo der Text von Schauspielern genommen wird, muß er eine Kraft haben zu widerstehen, daß er nicht völlig in ihnen aufgeht. Der Text braucht aus sich heraus einen Widerstand gegenüber der Vernatürlichung. Das ist der Reiz bei Shakespeare, bei Schiller, bei Kleist vor allem: die hochgeformte Sprache, die den Schauspieler immer zwingt, außerhalb seiner alltäglichen Dimension zu denken, und sich aber trotzdem nie auflöst in die Stimme des Schauspielers.

Das Volksbühnenprojekt trägt schon, bevor es überhaupt angefangen hat, das Wort »Avantgarde« im Titel. Verbinden Sie persönlich etwas mit diesem Begriff?

Avantgarde? Von wem kommt das? Also nicht aus der Volksbühne. Das ist eine Projektion, die hier im Haus keine Rolle spielt. Letztendlich wollen wir versuchen, das zu machen, was wir wollen, also in einer gegenseitigen Absicherung und dadurch mit einer größeren Konsequenz.

Sie werden oft mit Frank Castorf verglichen. Freut Sie der Vergleich?

Ich bin natürlich durch sein Arbeit aus Anklam, aus Karl-Marx-Stadt beeinflußt und geprägt. Ob mich das freut? Das hängt vom Vergleich ab, zumeist hat es ja eine Negativwertung. Es gab mal ein Gespräch, wo der Unterschied zwischen mir und Castorf auf eine für mich verständliche Weise beschrieben wurde, die mir sympathisch war. Da wurde gesagt, während Castorf doch viel mehr aus einer Bissigkeit, aus einem Zynismus arbeite, käme die Arbeit bei mir eher aus einem Wundsein. Das, glaube ich, stimmt insofern, als daß Woyzeck tatsächlich nicht komisch ist. Nun sind die Arbeiten von Frank Castorf auch keine Komödien, aber sie haben natürlich immer das Auspendeln des Gleichgewichts, das Geschick, Wirkung über ein Gleichgewicht sehr gezielt organisieren zu können. Der Unterschied liegt sicher vor allem in dem Umgehen mit Wirkungsmechanismen, Wirkungsmöglichkeiten von Theater. Im Woyzeck wird ja sehr oft versucht, sie zu verhindern.

Sie sprachen auch von einer „neuen Wahrhaftigkeit“, einer „neuen Ehrlichkeit“ auf der Bühne.

„Neue Ehrlichkeit“ stimmt in der Verkürzung, und vor allem in der Konstellation, daß ich jetzt was Neues mache, und daß das viel besser und überhaupt ehrlicher ist, so nicht. Es gibt eine grundsätzlich skeptische Haltung gegenüber der Verabredung, wobei der Text die erste Verabredung ist. Die Schwierigkeit ist jetzt, innerhalb der Formulierung, um eine Eitelkeit herumzukommen, weil der Vorgang eigentlich sehr simpel ist. Ich versuche es mal am Beispiel Woyzeck zu umschreiben. Woyzeck ist eine Arbeit, die zusammengehalten wird über die beiden Motive Poesie und Traurigkeit. Das ist der Versuch, einfach zu sein, sehr simpel, sehr hölzern, nichts zu glätten, keine Virtuosität zu entwickeln. Erst einmal sehr stark aus einer Reduktion zu arbeiten und aus einer Intimität. Was ich jetzt als Tendenz empfinde, wenn ich Theater sehe, ist das Bedürfnis, ja wie soll ich das beschreiben, von Restauration — Verbürgerlichung engt das viel zu sehr ein. Es ist ein emotionales Problem, mehr als ein soziales oder gesellschaftliches. Das Bedürfnis, von der Bühne runter, bei dem, was entsteht ... da fehlt ein Wort. Vielleicht fällt es mir noch ein, dann sag ich's und dann kannst Du es einfügen.

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