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„Es hat sich ausgeschmerzt“

Der Künstler Martin Schröder-Berlin hat unheilbaren Krebs. Docher will selbst bestimmen, wann und wie er stirbt – und entscheidet sich für einen assistierten Suizid. Unsere Autorin ist mit ihmbefreundet und hat ihn in seinen letzten Lebenswochen begleitet

Sein letztes Abendmahl: Martin Schröder-Berlin beim Essen mit Freunden einen Tag vor seinem Tod

Von Christine Leutkart (Text und Fotos)

Noch 44 Tage

In dem griechischen Lokal ist Martin bekannt. Wir sind hier, weil er meine Tochter Benja und mich zum Abendessen eingeladen hat. Ein langer Arbeitstag liegt hinter uns. Benja hat Martin und seine Kunst gefilmt, sie arbeitet an einem Dokumentarfilm über ihn. Ich habe Interviews mit ihm geführt. Jetzt haben wir Hunger. Der Chef des Lokals, das in Ludwigsburg nahe Stuttgart liegt, gibt einen Ouzo aus und stellt Martin ein Bier dazu. Er kennt die Vorlieben seines Gastes.

Was er nicht weiß: Martin ist unheilbar an Krebs erkrankt und wird bald sterben. Martin und er liefern sich einen Schlagabtausch, und Martin lacht sein lautes, schepperndes Lachen. Dann wird er ernst. Er zeigt auf eine lange Tafel, die mitten im Raum steht: „Diese Tische möchte ich für Ostermontagabend reservieren“, sagt er. Martin hat genaue Vorstellungen, wie der Abend am Ostermontag verlaufen soll. Außer Speisen und Getränken sollen auch Kerzen auf dem Tisch stehen.

„Last Supper“ nennt Martin die letzte Inszenierung seines Lebens. Es wird ein Abschied für immer sein. Am Tag darauf soll Martins Bett so stehen, dass er sehen kann, wie die Sonne ins Zimmer fällt. Wenn er um 11 Uhr die Klemme an der Infusion öffnen wird, wird ein überdosiertes Narkotikum durch seine Adern fließen. Vier Minuten später wird sein Leben zu Ende gehen. In 44 Tagen ist es so weit.

Martin wünscht sich, dass über ihn berichtet wird. Weil vielen Menschen die Möglichkeit der juristisch-ärztlich assistierten Freitodbegleitung noch unbekannt ist. Und weil er als Künstler nicht in Vergessenheit geraten möchte. „Ich möchte nicht ungesehen gehen“, sagt er. Wenn dieser Text erscheint, wird Martin im Alter von 61 Jahren gestorben sein.

Was bedeutet es für ihn, geplant zu sterben? Und was ist Martin in den letzten Tagen seines Lebens wichtig? Diesen Fragen möchte ich in unseren letzten Gesprächen auf den Grund gehen.

Martin und ich waren Sitznachbarn in einer Vorbereitungsklasse, um das Fachabitur zu erwerben. Wir lebten in Schwäbisch Gmünd. Er war Anfang und ich Mitte 20. Das war vor vierzig Jahren. Auf Partys war er damals der Mittelpunkt. Bis heute habe ich keinen mitreißenderen Tänzer erlebt.

Nach dem Abschluss wollten wir irgendetwas mit Kunst studieren. Aber Martin konnte sich nicht auf den Lernstoff konzentrieren, hatte Versagensangst. Brach die Schule ab. Mit der Diagnose „suizidaler Borderliner“ ging er anderthalb Jahre in eine psychiatrische Einrichtung. In der Kunsttherapie lernte er, Gefühle und Gedanken in Bildern auszudrücken. „Als ich wieder rauskam, war ich Künstler“, sagt er.

Wir verloren uns viele Jahre aus den Augen. Vor acht Jahren entdeckte ich auf Youtube kurze Filme über ihn: Martin, der durch Berlin flaniert und über seine Bilder spricht. Martin, der über Kunst philosophiert. Ich schrieb ihm eine E-Mail. Er reagierte sofort. Geboren in Schleswig-Holstein, lebt und arbeitet Martin Schröder-Berlin seit 32 Jahren in einer ehemaligen Kaserne in Ludwigsburg. Mit einer Pause von zwei Jahren Anfang der zehner Jahre, die er in Berlin verbrachte. Aber seine Kunst wurde in der großen Metropole kaum wahrgenommen. Also ging er zurück nach Süddeutschland, wo er sich auskannte.

Weder Bipolarität noch Alkohol konnten ihn je von der künstlerischen Arbeit abhalten. Entsprechend umfangreich ist sein Werk.

Noch 43 Tage

Am nächsten Morgen werden Benja und ich mit Klaviermusik von Chopin empfangen. Auf dem Tisch steht ein bunter Blumenstrauß. Zärtlich streicht Martin über die Köpfe der Weidenkätzchen. „Schön, nicht?“, sagt er. Ich sehe ihm an, dass ihm bewusst wird, dass er gerade zum letzten Mal den Frühlingsanfang erlebt.

Er zeigt uns seine „Schriftmalereien“, malerische Verbalbotschaften, die in wenigen Worten ausdrücken, was ihn bewegt: „Bipolar gestört, bipolar begnadet“, ist auf einer zu lesen. Seine Bipolarität habe er nie als Krankheit gesehen, sagt Martin. Er sei eben so. Ob in der Bildhauerei, Malerei oder Konzeptkunst, die manischen Phasen unterstützten seine Kreativität. „Emotionale Formulierungen“ nennt Martin seine Bilder auch.

„Stimmt es, dass ein toter Künstler der bessere ist?“, steht auf einem anderen Bild geschrieben, die Ironie liest man mit. Natürlich nicht. Aber was kann Martin jetzt noch tun, um dies zu beweisen? Die breite Anerkennung, die er sich als Künstler immer gewünscht hat, blieb bisher aus. „Ich hatte das Glück, Künstler zu sein. Auch, wenn es oft schmerzhaft war“, sagt er. Schmerzhaft waren die Versagens- und Minderwertigkeitsgefühle, die in seiner Kindheit entstanden seien. Besonders seine Mutter habe er enttäuscht. „Dass ich als unbekannter Künstler in Armut lebte, fand sie schlimm. Als ich ihr dann noch sagte, dass ich schwul bin, fragte sie: „Wer hat dir das angetan?“ Sein Vater hat Martins Coming-out nicht mehr erlebt. Er suizidierte sich, als Martin achtzehn war. „Er musste noch den brutalen Weg gehen“, bedauert Martin. Sein Vater legte den Abgasschlauch ins Auto und vergiftete sich.

Seine Ausstellungen seien gelobt worden, aber seine Kunst hätten trotzdem nur wenige gekauft. „Aber ich habe mich nicht an der Enttäuschung festgebissen.“ Dann sagt Martin noch einen seiner besonderen Sätze: „Endlich hat es sich ausgeschmerzt.“ Damit meint er die seelischen Schmerzen. Denn die körperlichen nehmen zu.

Martin kann nicht mehr längere Zeit stehen oder sitzen. Wegen einer Nervenkrankheit schmerzen seine Beine, Folgen der Chemotherapie und des Alkohols. Dazu kommt noch das Fatigue-Syndrom. Kaum quält er sich morgens aus dem Bett, ist er gleich wieder müde. Martin ist längst nicht mehr der biegsame Tänzer von damals. Heute trippelt er in kleinen Schritten, um die Balance nicht zu verlieren. Jede Bewegung tut ihm weh. Deshalb kann er kaum noch künstlerisch arbeiten. „Ich will nicht mehr“, sagt Martin. Und meint damit nicht das Malen, sondern das ganze Leben. „Ich gehe nur noch von Qual zu Qual zu Qual.“

Die erste Krebsdiagnose kam im März 2021: Dickdarmtumor. Der wurde operativ entfernt. Im März 2023 die zweite Krebsdiagnose mit Bauchfellkrebs. Bald darauf Metastasen in Leber, Lunge und im Becken. Ein Arzt erklärte ihm, da sei nichts mehr zu machen. Er wolle nicht so dahinsiechen wie seine Mutter, sagt Martin. „Keine Windeln und ja kein Pflegefall werden.“ Er will keine Schmerzpumpe und kein Morphium. „Ich will klar im Kopf bleiben. Bis zum Schluss.“ In einem Hospiz von fremden Menschen abhängig sein kann er sich nicht vorstellen. Lieber frühzeitig sterben. Da kam die Idee auf, eine ärztlich assistierte Freitodbegleitung zu beantragen.

Dass das geht, ermöglicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von Februar 2020, das das Recht auf selbstbestimmtes Sterben formuliert. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen“, heißt es im Urteil.

Ab Oktober 2024 verzichtete Martin auf eine Fortsetzung von Therapien und trat in die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) ein. Der Tipp einer Bekannten. Der Verein versteht sich als Patientenschutz- und Bürgerrechtsorganisation, berät unter anderem zu Patientenverfügungen. Seit dem Urteil aus Karlsruhe bietet er auch die Vermittlung von Sterbebegleitungen an. Auch der Verein Sterbehilfe und die Organisation Dignitas Deutschland sind Ansprechpartner für eine ärztlich assistierte Freitodbegleitung.

Ein Kriterium des Bundesverfassungsgerichts ist, dass der Sterbewunsch konstant ist. Deshalb wird er bei der DGHS ein halbes Jahr nach Antragstellung noch einmal überprüft. Nur wenn das Fortschreiten der Krankheit drängt, kann ein Antrag auf die Freitodbegleitung auch schon früher umgesetzt werden. Sterbewillige mit einer psychischen Erkrankung müssen zusätzlich ein Attest einreichen, in dem ein Fachexperte die Entscheidungs­fähigkeit des Klienten bestätigt. Das war bei Martin der Fall.

Die Skulptur, die auf sein Urnengrab gestellt werden soll, hat Martin schon fertiggestellt. Er will keine Trauerfeier und keine offizielle Bestattung. Das Abschiednehmen in den letzten Wochen seines Lebens bedeutet ihm mehr. Seine Liebe zu Berlin drückt sich in seinem Doppelnamen aus, der seit 2011 auch in seinem Pass steht: Martin Schröder-Berlin. Er hat vor einem halben Jahr auf dem Französischen Friedhof in Berlin ein Urnengrab gekauft. Auf einem direkt angrenzenden Friedhof sind Bertolt Brecht und Helene Weigel bestattet. Martin spricht gern davon, dass er „neben ihnen“ liegen wird.

Die Vorstellung, es könne nach dem Tod noch in irgendeiner Form weitergehen, findet Martin anstrengend. Lieber wäre es ihm, es gäbe nichts mehr. Aber ganz verschwinden will er auch nicht. Durch seine Kunst will er weiterhin mit der Welt verbunden bleiben. Martin hat keine Kinder oder einen Partner, dem er seine Kunst vermachen könnte. Seine Geschwister haben zu seiner Kunst nicht viel Bezug, sagt er. Sie leben in Norddeutschland. Trotz der weiten Entfernung sieht Martin sie hin und wieder. Vor Kurzem trafen sie sich zum letzten Mal. Martin hatte die beiden zu sich eingeladen, um sich von ihnen zu verabschieden. Natürlich gab es Tränen, sagt er. Er sei froh darüber, dass sie seine Entscheidung, sterben zu wollen, akzeptieren.

Aber wer wird sich um seine Werke kümmern, wenn er tot ist? „Beim ‚Last Supper‘ könnt ihr überlegen, ob ihr einen Verein gründen wollt“, sagt Martin. Und meint damit seine Freund:innen, die sich untereinander kaum kennen. Er hat das Essen also nicht nur geplant, um sich zu verabschieden. Sondern, damit wir gemeinsam dafür sorgen, dass seine Kunst nicht verschwindet.

Als Benja und ich gehen, vereinbaren wir mit Martin, uns regelmäßig zu sehen. Sein bevorstehender Tod lässt uns näher zusammenrücken.

Ich telefoniere mit Alba Reichle, Martins Rechtsanwältin, die ihm von der DGHS vermittelt wurde. Sie will hier nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden. Nachdem Martins Antrag für den assistierten Suizid von der DGHS geprüft wurde, besprach Reichle mit ihm die rechtlichen Seiten. In einem Gespräch mit einer Ärztin wurde er über Alternativen zum Freitod informiert, wie die Palliativmedizin und die Unterbringung im Hospiz. Dann klärte sie ihn über den Ablauf des assistierten Freitodes auf. Martin blieb bei seinem Entschluss. Und vereinbarte den Sterbetermin. Reichle und die Ärztin werden bei Martins Sterbevorgang dabei sein. Und seine engsten Freund:innen.

„Wie ist es, Menschen bei ihrem Freitod zu begleiten?“, frage ich Reichle. „Sie freuen sich, wenn ich komme. Denn sie wollen sterben“, antwortet sie. Wenn sie spürt, dass jemand mit Näherrücken des Sterbetermins ins Zweifeln kommt, beruhigt sie: „Sie müssen nicht sterben, wenn Sie das nicht wollen.“ Es sei dann eben noch nicht der richtige Zeitpunkt.

Eine Bedingung des Bundesverfassungsgerichts ist es, dass die sogenannte „Tatherrschaft“ beim Sterbewilligen bleibt. Das bedeutet, er muss den Öffnungsmechanismus am Infu­sions­schlauch ohne Hilfe betätigen und selbst seinen Tod herbeiführen. Bevor sie von ihrer Krankheit daran gehindert werden, wählen Sterbewillige deshalb oft einen frühzeitigen Termin. Und verlieren dadurch vielleicht mehr Lebenszeit, als nötig wäre. Ein Gesetz, das die aktive Suizidbegleitung erlaubt, könnte Abhilfe schaffen. In diesem Fall müsste der Sterbewillige schriftlich festhalten, dass ein anderer seinen Tod herbeiführen kann, wenn er es selbst nicht mehr schafft. Doch bisher ist die aktive Sterbehilfe im Gegensatz zum assistierten Suizid strafbar.

Noch 40 Tage

In unserem Telefonat frage ich Martin, ob er manchmal an seinem Sterbetermin zweifle. Schließlich sei er kein Pflegefall und versorge sich noch ohne fremde Hilfe. Vermutlich könne er noch einige Monate länger leben. „Keine Erbsenzählerei“, mahnt er. Der Sterbetermin behage ihm. „Ein Tag nach der Auferstehung“, sagt er und lacht sein ansteckendes Lachen.

Zu wissen, dass mein Freund bald sterben wird, ändert meine Wahrnehmung. Früher scharrte ich manchmal mit den Füßen, wenn er ausholend erzählte. Heute bekomme ich nicht genug von seinen Anekdoten. Oft will er nur einen Gedanken mitteilen oder von einer Begegnung erzählen. Er sagt: „Jeder Schritt hat jetzt Nagel und Kopf.“ Alles wird aufs Wesentliche reduziert. Wenn er sich verabredet, dann nur noch mit Leuten, die ihn interessieren. Die ihm guttun. Oder von denen er etwas will.

„Ich will klar im Kopf bleiben. Bis zum Schluss“

Martin Schröder-Berlin im März 2025

Noch 38 Tage

Oft geht es in unseren Gesprächen um Martins Kunst. Vor zwanzig Jahren war er zwei Jahre lang Assistent des Malers Ben Willikens. Dessen streng komponierte Bilder schulten Martins künstlerischen Blick. In Martins Bilderreihe „Das ungemalte Quadrat“ ist auch der Einfluss von Josef Albers’ Quadratbildern zu erahnen. Auf eigenwillige Weise verknüpft Martin informelle, konkrete und Konzeptkunst. Immer wieder lässt er einzelne Werke vervielfältigen. Die jeweilige Serie entspricht in der Regel seinem Lebensalter. Die Themen, die Martin in seinen Bildern verarbeitet, sind oft biografisch. Manchmal behandeln sie gesellschaftliche Ereignisse.

Heute bekam er von seinem größten Gemälde, „Estonia“, 61 Siebdrucke geliefert. Der Untergang der großen Ostseefähre 1994 mit über 800 Passagieren hatte ihn damals beschäftigt. Auf seinen „Estonia“-Siebdrucken schimmert auf einer dunkelblauen Flutwelle ein geheimnisvolles Licht. Martins Stimme ist beschwingt und er lacht viel. Er scheint vom Sterben weiter weg zu sein als je.

Noch 33 Tage

Für einen Kunstkatalog, in dem seine Werke zu sehen sind, gab es nie genug Geld. Ich rufe Sabine an, eine enge Freundin und Förderin von Martin. Wir haben uns vor Kurzem bei ihm kennengelernt. Sie sagt zu, die Finanzierung eines Katalogs zu übernehmen. Mein Kollege Daniel, der Grafikdesigner ist, erklärt sich bereit, den Katalog zu gestalten. Am Abend rufe ich Martin an und erzähle ihm begeistert von unserem Plan. Er sagt: nichts. Dann verstehe ich: Erst sein bevorstehender Tod öffnet Türen, die vorher verschlossen waren. „Macht es dich traurig, dass es erst jetzt mit dem Katalog klappt?“ frage ich. Der Künstler, der Inszenierungen liebt, bricht wieder in ihm durch. „Die Vernetzung zwischen euch und die Aufmerksamkeit, die ich bekomme – das ist doch ein herrliches Finale“, sagt er.

Noch 27 Tage

Am Telefon planen wir meinen nächsten Besuch. Daniel wird mitkommen, um mit Martin Details für den Katalog zu besprechen.

Noch 23 Tage

Opernmusik schallt uns entgegen, als Daniel und ich die ehemalige Kaserne betreten. Die Tenorstimme von Pavarotti, Martins Lieblingssänger, erfüllt das Atelier. Martin steht, in T-Shirt und Shorts bekleidet, vor einer Leinwand. Er setzt gerade auf die mit kräftigen Farben bemalten Farbflächen einen weißen Schriftzug. Mit einer Bierflasche in der einen Hand und dem Pinsel in der anderen betrachtet er dann sein Werk: „Ich bin beseelt eingeschlafen nach einem turbulenten Leben mit Hilfe der juristisch-ärztlichen Freitodbegleitung“, ist auf der Schriftmalerei zu lesen.

Daniel legt ein paar Kunstkataloge als Arbeitsbeispiele auf den Tisch. „Da rede ich nicht mehr mit“, sagt Martin und blättert sie lustlos durch. Mir fällt auf, dass er keine Entscheidungen mehr treffen will, die die Zukunft betreffen. Eine Zukunft, an der er nicht mehr teilhaben wird. Dann bleibt er an einem Katalog in Hardcover hängen. „Der gefällt mir“, sagt er und steht auf. Als er zum Kühlschrank geht, um das nächste Bier zu holen, stößt er gegen den Tisch. Ein Glas fällt zu Boden. Als ich es aufheben will, mahnt Martin: „Lass mal. Ich bin immer noch der Hausherr.“ Das Glas bleibt liegen.

Noch kann Martin sich Essen und Bier aus dem Kühlschrank holen. Aber wie lange noch? Skulpturen stehen im Raum verteilt, aufgeklappte Ordner liegen auf Stühlen und auf dem Boden. Es gibt viele Stolperfallen. „Was, wenn du stürzt und nicht mehr allein hochkommst?“, frage ich. Alkohol und die Nervenkrankheit sind keine gute Kombination. „Die drei Wochen halte ich noch durch“, sagt er. „Wäre ja blöd, wenn die Hauptperson beim ‚Last Supper‘ nicht dabei wäre.“ Sein Humor blitzt wieder durch.

Wie kann es sein, dass einer, der so quicklebendig ist, morgen sterben wird?

Beim Abschied hält Martin mich fest und vergräbt seinen Kopf in meinen Haaren. So viel Körpernähe bin ich von ihm nicht gewohnt. Sein bevorstehender Tod lässt ihn anhänglich werden. „Ich rieche dich so gern“, sagt er. „Ich dich auch“, sage ich und löse mich aus seinen Armen. Ich lasse ihn nicht gern allein zurück.

Auf dem Rückweg fahren Daniel und ich bei Martins Freundin Sabine vorbei. Wir wollen darüber nachdenken, wie wir für Martins künstlerischen Nachlass sorgen können. Es ist viel, was wir uns vornehmen: Wir wollen Martins Werke sortieren und archivieren, sie ausstellen und verkaufen. Werden sich außer uns noch weitere Spender für die Finanzierung finden? Dann sprechen wir über Martins bevorstehenden Tod. Obwohl Sabine den assistierten Freitod für sich persönlich ablehnt, wird sie Martin dabei begleiten, wenn er stirbt. „Ich selbst möchte einmal weder lebensverlängernde noch -verkürzende Maßnahmen. Sondern möglichst das Leben so ausklingen lassen, wie es sein soll“, sagt sie.

Ich war noch nie dabei, wenn jemand stirbt. Könnte ich damit umgehen? Das Sterben einer vertrauten Person zu erleben, stelle ich mir belastend vor. Bisher hat Martin mich nicht gebeten, im Moment des Sterbens dabei zu sein. Irgendwie bin ich auch ganz froh darüber.

Noch 18 Tage

Eine Freundin sieht die ärztlich assistierte Freitodbegleitung kritisch. In unserer Gesellschaft wolle man alles steuern, selbst den Tod, sagt sie. „Ein Auswuchs des Machbarkeitswahns.“ Sie befürchtet, dass alte Menschen unter Druck geraten könnten, wenn das Sterben zu leicht gemacht wird. Wenn sie anderen lästig werden: zack, aufs Sterbebett, Infusion legen, tot. „Aber es geht doch darum, eine zusätzliche Alternative zu schaffen und die freie Entscheidung des Menschen zu respektieren“, wende ich ein. Christlich geführte Pflegeeinrichtungen stehen oft in einem moralischen Konflikt: Das Leben, das als Geschenk Gottes betrachtet wird, soll geschützt und nicht von eigener Hand beendet werden. Dem gegenüber steht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Während manche Heime Beratungen oder gar den assistierten Suizid selbst zulassen, lehnen ihn andere ab. Die Heimbewohner müssen dann bei Freunden oder Familienmitgliedern einen Platz finden, an dem sie mit Unterstützung der assistierten Freitodbegleitung sterben dürfen.

Noch 16 Tage

Im italienischen Restaurant rührt Martin seine Spaghetti aglio e olio nicht an. Reden ist ihm wichtiger, als die gemeinsame Zeit mit Essen zu vergeuden. In den manischen Phasen habe er sich manchmal gefragt: „Wo ist der Knopf zum Ausmachen?“ Das überschäumende Lebensempfinden sei anstrengend gewesen. Oft habe er es sich mit Leuten verdorben, Freundschaften seien zerbrochen. Und in den Zeiten seiner Depressionen habe er sich wie in einer Waschmaschine gefühlt, die ihn umherschleuderte. „Wenn ich wieder rauskam, fühlte ich mich gereinigt.“ Er sei mit sich versöhnt. „Auch wenn ich unter mir gelitten habe: Es ist gut so, wie ich bin“, sagt er. „Der Idiot ist tot“, heißt es auf einem seiner Bilder. Der Idiot als Teil von ihm, der ihn lange davon abgehalten hat, zu sich selbst zu stehen.

Noch 12 Tage

Ich komme verschwitzt vom Fitnesscenter. Martin ruft an und sagt, er finde es großartig, dass wir uns um seinen Nachlass kümmern. „Ihr werdet mich noch posthum berühmt machen“, sagt er und lacht. Zu Lebzeiten hätte er Ruhm sicher nicht verkraftet, sagt Martin. Er hätte ihn noch maßloser gemacht. Aber nach seinem Tod habe er nichts dagegen. „Weißt du, dass ihr mich glücklich macht?“, fragt er. Wir Freunde seien wie eine Familie, in deren Mitte er sich geborgen fühle. „Du bist doch auch dabei, wenn ich sterbe?“, fragt er plötzlich. Kurz stocke ich. „Gern“, sage ich dann. Wie könnte ich ihm diese Bitte abschlagen? Ein unerwartetes Gefühl steigt in mir auf: Freude. Beim Sterben meines Freundes dabei sein zu dürfen, verstehe ich als großen Vertrauensbeweis.

Noch 8 Tage

Seine Kunst wird ihn überdauern: Martin Schröder-Berlin in seinem Atelier

In den letzten Tagen vor Martins Tod steigt in mir die Nervosität. Ein falsches Wort, ein schiefer Blick, und ich bin den Tränen nahe.

Noch 6 Tage

Ich verpasse Martins Anruf. Seine verzweifelte Stimme auf dem Anrufbeantworter bittet um Rückruf. Erst am nächsten Morgen nimmt er endlich den Hörer ab. Beim Aufräumen und Aussortieren habe ihn der Jammer gepackt, sagt Martin. Zwischendrin habe er geweint. Mehr will er nicht dazu sagen. Ich ahne, dass ihm der Abschied vom Leben mehr zusetzt, als er zeigen will.

Noch ein Tag

Benja und ich reisen an, um am „Last Supper“ teilzunehmen. Benja hat wieder ihre Kamera dabei und baut das Stativ auf. Der Film soll einen Einblick in Martins Kunstschaffen geben und die letzte Zeit vor seinem Tod zeigen.

Beim Griechen ist es voll, die Kellner hetzen hin und her. Wir sitzen mit 16 Leuten an einer langen Tafel mitten im Trubel. Martin prostet seinen Gästen zu, mal mit Bier, dann mit Schnaps. Dass Alkohol ihn entspannt und beflügelt, hat er mir schon oft versichert. Er behauptet, selbst im Rausch einen klaren Kopf zu behalten. In Schaffenszeiten sei der Alkohol Motor gewesen, um seine Kreativität anzutreiben, sagt er. Jetzt, in der letzten Lebensphase, sei er vor allem beruhigend.

Wie kann es sein, dass einer, der so quicklebendig ist, morgen sterben wird? Niemand käme darauf, dass wir heute den endgültigen Abschied von unserem Freund feiern. Einer erzählt, was er am nächsten Wochenende vorhat. Interessiert hört Martin zu. Ab morgen geht das Leben ohne ihn weiter. Zu gern wüsste ich, was in ihm vor sich geht. Ich sehe es ihm nicht an.

Auch die Juristin Alba Reichle sitzt mit am Tisch. Beim Hauptgang verdirbt sie uns die Stimmung. „Martin muss die Uhrzeit missverstanden haben“, sagt sie. Der Sterbetermin am nächsten Tag sei um 9 Uhr und nicht, wie wir alle dachten, um 11 Uhr. Da sei nichts zu machen, die Ärztin habe zwingende Termine. Martin bleibt gefasst. Zwei Stunden kamen mir noch nie so kostbar vor wie diese, die ihm gerade geraubt werden.

In diesem Bett findet sein Leben ein Ende, selbstbestimmt

Als Martin aufsteht, um sich als Erster zu verabschieden, ist es mit der Kontrolle vorbei. Er schluchzt, hält sich an einem Freund fest. Weint kurz und heftig. Dann fängt er sich wieder, umarmt noch rasch den ­einen und anderen. Er besteht darauf, allein nach Hause zu gehen. Ein paar Freunde stehen vor der Tür, rauchen, sehen hinter ihm her. Rufen letzte Abschiedsworte. Reiben sich die Tränen aus dem Gesicht. Wir bleiben noch eine Weile im Restaurant sitzen. Wollen uns fast nicht voneinander trennen.

Am Sterbetag

Als unsere Freundesgruppe am nächsten Morgen zu viert eintrifft, stellt Martin gerade eine Tasche mit Leergut an die Straße. „Für die Pfandsammler“, erklärt er. Für mich steht ein Topf mit verwelkten Narzissen bereit. Die Blumenzwiebeln soll ich in meinen Garten pflanzen. In der Wohnung sagt Martin, er gehe jetzt duschen. „Dafür ist keine Zeit mehr“, sage ich und denke, dass es gemein von mir ist, ihn davon abzuhalten. Wann tauschen wir letzte Worte aus, wenn nicht jetzt? Aber Martin will keine Abschiedsrunde. Er umarmt jeden kurz. Ich frage ich ihn, ob er beim Sterben Körperkontakt wolle. „Das weiß ich doch auch nicht“, sagt er und läuft weiter. Er nimmt seine ganze Kraft zusammen, um uns die letzten Minuten erträglich zu machen. Nur kein Pathos.

Die Ärztin und die Juristin sind da. Wir Freunde warten draußen, während Martin seine Freitoderklärung unterschreibt, sowie eine Erklärung, dass er keine Rettungsmaßnahmen wünscht („Garantenpflicht“). Vorkehrungen für die Kriminalpolizei, die nach seinem Tod informiert wird, wie nach jedem nicht natürlichen Todesfall. Wie bei jeder ärztlich assistierten Freitodbegleitung wird ein Zugang in Martins Vene gelegt und eine Kochsalzinfusion angehängt. So wird überprüft, ob die Nadel richtig liegt. Dann dürfen wir wieder ins Zimmer. Martin liegt auf seinem Bett. Die Ärztin hat die Nadel von der Kochsalzlösung in den Beutel mit dem Narkosemittel umgesteckt. Sobald Martin die Rollklemme nach oben schiebt, wird sich die Infusion öffnen, und das tödlich dosierte Barbiturat Thiopental fließt in seine Blutbahn.

Wir verteilen uns um Martins Bett. Ich sitze neben ihm am Kopfende. Die Ärztin sagt: „Wenn Sie die Infusion öffnen, werden Sie bald einschlafen und kurz darauf sterben. Ist das Ihr freier Wille?“ Martin bejaht. Die Ärztin nickt. Martin schiebt das Rädchen hoch. „Martin, wir lieben dich“, sagt Sabine. Ich nehme seine Hand. Warm und schwer liegt sie in meiner. Die Infusion läuft, eine gelbe Flüssigkeit rinnt durch den Schlauch. Über Martins Bett brennt in einem Windlicht eine Kerze. Die Ärztin fragt, ob er noch etwas sagen möchte. Martin sieht von einem zum anderen. „Ich gehe als glücklicher Mann“, sagt er. Dann fällt sein Kopf zur Seite. Seine Augen fallen zu. Im Hof der Firma nebenan rangiert ein Lastwagen hin und her. Metallgeschepper, als falle ein Gerüst in sich zusammen. Im Raum tickt die Uhr. Martin atmet ein und aus. Niemand schluchzt oder sagt etwas. Tränen laufen über mein Gesicht. Vier Minuten verharren wir in Stille.

Ein – aus.

Ein – aus.

Aus.

Christine Leutkart, 65, ist Autorin der wochentaz. Sie hat sich bereits in einem Buch mit dem Thema Tod auseinandergesetzt: „Weiter leben. Neuorientierung nach dem Tod des Partners“ (Tyrolia Verlag, 2020).

Martin Schröder-Berlins Werke finden sich auf der Webseite www.martinschroederberlin-nachfolge.com im Internet.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben/Dignitas Deutschland/Verein Sterbehilfe/FAZ

Quelle: Statistisches Bundesamt

Quelle: DGHS/Forsa

Quelle: DGHS/Forsa

Quelle:­ DGHS

Quelle: Eigenrecherche

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