: Es fehlt an Ordnung und Disziplin
■ Sie kritisieren „ungehemmte Sexualität“ und „fragwürdige Moralvorstellungen“ der Bundesrepublik: Für viele Spätaussiedler aus Russland ist Deutschland ein verspätetes Woodstock. Und jeder Fünfte hätte es sich schöner vorgestellt
Das Bild vieler Spätaussiedler von Deutschland stimmt mit der vorgefundenen Wirklichkeit kaum überein. Nach der Übersiedlung stellen über 60 Prozent der Russland-Deutschen fest, dass die neue Heimat nicht so ist wie in ihren Vorstellungen. Jeder Fünfte meint sogar, sie sei „ganz anders“. Nur für etwa 15 Prozent bot Deutschland offenbar keine Überraschungen. Dies ergab eine Untersuchung des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin.
Überrascht waren viele Aussiedler insbesondere von der Mentalität der Menschen, der Art sich zu kleiden, der Kindererziehung und der deutschen Kultur. Jeder Fünfte hatte es sich schöner ausgemalt. 18 Prozent hatten nicht gewusst, welche elementare Rolle die Bürokratie in Deutschland spielt. Positiv werden dagegen vor allem das reichhaltige Warenangebot und die Freundlichkeit der Menschen bewertet.
„Im Zuzugsland müssen viele Russland-Deutsche erkennen, dass die Werte, die sie so eisern hochhalten, hier an Bedeutung verloren haben“, erläutert Renate Baum vom Osteuropa-Institut. In vielen Großstädten ließen Sauberkeit und Ordnung zu wünschen übrig, es fehle an Disziplin in den Schulen und an Ehrfrucht der Kinder gegenüber den Älteren. An diesen Mängeln ist nach Ansicht der Aussiedler hauptsächlich die lockere Erziehung schuld.
Besondere Probleme bereiten den Aussiedlern die „fragwürdigen Moralvorstellungen“. Dass Paare unverheiratet zusammenleben, war in der ehemaligen Sowjetunion nicht üblich. Auf Unverständnis stößt auch der freie Umgang der Geschlechter miteinander, die „ungehemmte“ Art, Sexualität zu praktizieren und darüber zu sprechen. Immerhin zwei Drittel der Befragten thematisieren diesen Lebensbereich in ihren Familien überhaupt nicht.
Ein Teil der Spätaussiedler verteidigt das Althergebrachte umso heftiger. Jüngere, so vermutet Renate Baum, werden die Ansichten der Älteren zwar in Frage stellen, aber nur zögernd wagen, ihr Leben zu ändern. Im Zuge dieser Orientierungslosigkeit stellt sich nach Ansicht der Expertin ein leichtes Gefühl der Minderwertigkeit ein, das – verstärkt durch Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung auf Grund mangelnder Sprachkenntnisse – fatale Folgen haben kann. „Man identifiziert sich mit den Zielsetzungen jener Gruppierungen, die scheinbar Ordnung, Sauberkeit und Disziplin, vor allem aber blinden Gehorsam und eine andere Ausländerpolitik propagieren, das heißt mit dem äußerst rechten Rand des Parteienspektrums.“
Bei allen Unterschieden, die in einzelnen Fragen zwischen den verschiedenen Alters-, Herkunfts- und Bildungsgruppen festzustellen waren, bilden Spätaussiedler eine relativ homogene Gruppe. Das Bestreben zusammenzurücken, das gewohnte Leben weiterzuführen und auf den eigenen Werten zu beharren, ist stark ausgeprägt. Zusätzlich erschwert wird die Integration durch die geballte Unterbringung der Aussiedler in Wohnkomplexen.
Annette Kurth, ADN
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