Internationaler Literaturpreis verliehen: Gedichte aus der Zwischenwelt
Mit Kim Hyesoons „Autobiografie des Todes“ geht der Internationale Literaturpreis erstmals an ein Lyrikwerk. Inspiriert hat die Autorin ein Schiffsunglück.
Für Kim Hyesoon ist es kurz nach drei Uhr morgens, als sie am Donnerstagabend per Zoom zur Preisverleihung des Internationalen Literaturpreises ins Haus der Kulturen der Welt (HKW) nach Berlin zugeschaltet wird. Ihr Kopf ragt zwischen roten Farnblättern hervor, die Teil eines im Hintergrund hängenden Gemäldes sind. In ihrem nun ausgezeichneten Gedichtband malt die südkoreanische Autorin jedoch deutlich düsterere Bilder: Die 49 Gedichte ergründen den Raum zwischen Diesseits und Jenseits. Die gleiche Anzahl an Tagen weilt die Seele gemäß buddhistischen Glaubens auf der Erde, bevor sie in den Kreislauf der Wiedergeburt tritt.
Anlass für die Beschäftigung mit dem Tod, oder besser gesagt den Toden, war für Hyesoon das „Sewol“-Fährunglück im Jahr 2014, bei dem 304 Menschen ums Leben kamen. Ihre Wut auf das korrupte Regime, welches die unzulässige Überladung des Schiffes vertuschen wollte, bremste ihr Schreiben zunächst – später entschied sie sich, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen: „Die Gedichte kommen aus eben dieser Zwischenwelt, in der die Totengeister irren“, erzählt sie dem Publikum durch den Bildschirm.
Dank einer Live-Übersetzung kann man über Kopfhörer ihrer eloquenten Dankesrede folgen, die sich an die Jury und insbesondere an ihr Übersetzungsteam richtet. Das besondere an dem mit 35.000 Euro dotierten Preis ist nämlich: Er zeichnet nicht nur Autor*innen aus, sondern auch deren Übersetzer*innen. Neben der überdimensionalen Hyesoon auf der Leinwand sind sie heute auf dem Podium anwesend und berichten aus der Übersetzungswerkstatt.
„Während des Prozesses sind wir fast zu einer Familie geworden.“, erzählt der Kulturphilosoph Sool Park, der an diesem Abend mit einer Mischung aus betontem Respekt und Leichtigkeit live Hyesoons Gesprächsbeiträge dolmetscht. Er war es auch, der das Werk zunächst vom Koreanischen ins Deutsche übersetzte.
Seine Fassung landete dann bei der Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf, die selbst kein Koreanisch spricht und das Werk nur aus der 2018 veröffentlichten englischen Version kannte. In den vielen Zoom-Gesprächen diskutierten sie über die „richtige“ Übersetzung, schickten sich mehrere Versionen hin und her: „Die Herausforderung war es, eine Sprache zu finden, die es noch nicht gab. Eine, die schön und gleichzeitig kaputt ist“.
Laudatio von Deniz Utlu
„In ihren Gedichten gelingt es Hyesoon, das Unbegreifliche des Todes in Sprache zu fassen“, sagt Jurymitglied Deniz Utlu in seiner Laudatio. Dafür spiele sie mit den Leerstellen ihrer Muttersprache – damit, dass das Subjekt im Koreanischen oft weggelassen wird. Grammatikalische Person und zeitliche Ebenen verschwinden. Dadurch entstehe eine Sprache, die sich nicht leicht übersetzen lasse. Umso mehr würdigt die Jury die herausfordernde Arbeit des Übersetzungsteams: „Wenn es eine Muttersprache des Todes gibt, lässt sich nicht erklären, was der Tod spricht – aber es lässt sich übertragen durch Rhythmus und Bilder“.
Den Rhythmus, so berichtet Wolf, habe sie sofort in Hyesoons Werk finden können – auch, wenn sie kein Koreanisch, sondern nur „die Sprache der Poesie“ spreche. Im Gespräch erzählt sie an einem Beispiel, wie sie für die Positionierung eines bestimmten Wortes über fünf Versionen diskutierten. Auch Park erinnert sich: „Die finale Version klang überraschenderweise weder nach mir, nach dir, noch nach Hyesoon. Es war eben eine Geistersprache“. Am Ende, so zeigt sich, entsprach die Struktur der Zeile doch – wenn auch unbeabsichtigt – dem koreanischen Original.
Zum 17. Mal hat das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in diesem Jahr den Preis für Gegenwartsliteratur in deutscher Erstübersetzung vergeben. In diesem Jahr zum ersten Mal für Lyrik. Seit 2023 sind Werke aus diesem Bereich ausdrücklich zugelassen und erwünscht. Hyesoons Gedichtband hat sich damit gegen die fünf anderen Werke auf der Shortlist durchgesetzt, die von Doğan Akhanlı, Anna Melikova, Sarah Bernstein, Neige Sinno und Jesmyn Ward stammten.
Nachdem der Preis im letzten Jahr wegen vermeintlich intransparenter Auswahlkriterien im Jahr 2023 in der Kritik stand (was an diesem Abend nicht thematisiert wurde), betont die Jury die besondere Dringlichkeit, die das Werk auszeichnen müsse. Utlu formuliert es so: „Nichts ist so nah, so sehr Teil des Lebens und gleichzeitig so unbegreiflich wie der Tod“. Entscheidend sei zudem auch die Grenzüberschreitung von Sprache – durch das Werk selbst, aber auch durch die Übersetzung.
Südkorea als dystopische Zukunft der Welt
Die koreanische Literatur hat in den letzten Jahren zunehmend internationale Aufmerksamkeit bekommen – im Jahr 2024 ging der Nobelpreis für Literatur an die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang. Park beschreibt seine Heimat Südkorea als die „dystopische Zukunft der Welt“: Technik und Gesellschaft entwickeln sich schneller als anderswo – düstere Zukunftsvisionen seien bereits Realität: „Das macht es zu einem interessanten Ort der Imagination und der Vorhersehbarkeit“.
Zum Schluss entschuldigt sich die wortgewandte Preisträgerin für ihre heiser gewordene Stimme. In Seoul ist es schließlich schon fast vier Uhr morgens – Schlafenszeit. In Berlin ist die Sonne auch schon untergegangen, die Diskokugel an der Decke dreht sich und taucht das Restaurant im HKW in ein konfettiartiges Lichtspiel. Es werden Bücher signiert und im Hintergrund klingen zarte, ausklingende Töne von Turi Agostino. Vielleicht gelingt es ja – wie in Hyesoons Gedichten – für einen Moment zwischen Diesseits und Jenseits zu sorgen. Oder zumindest, dem Rhythmus zu folgen.
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