Ein Mann steht zwischen kleinen gelben tiny houses

Foto: Jennifer Zumbusch

Erster Jahrestag der Flutkatastrophe:Die Angst vor dem Regen

Ein Jahr nach der Flutkatastrophe im Ahrtal lebt Familie Ataoğlu weiter in einem winzigen Haus. Viele kämpfen bis heute mit dem Trauma. Ein Besuch.

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14.7.2022, 08:24  Uhr

Vierunddreißig Quadratmeter groß, etwa so viel Platz wie in einem Boxring, hat die fünfköpfige Familie Ataoğlu in ihrem vorübergehenden Zuhause in einem Tiny House in Sinzig an der Mündung der Ahr in den Rhein. Auf engstem Raum befindet sich eine kleine Kochnische und ein Bad, ein Schlafzimmer für die Eltern, zwei Einzelbetten für die Töchter und eine Schlafcouch für den Sohn. Statt eines Boxkampfs fechtet die Familie hier den Kampf gegen die Folgen der Flut aus.

Der 56-jährige Familienvater, Sinan Ataoğlu, zeigt auf sein früheres Zuhause, nur drei Gehminuten entfernt von der Siedlung. „Die Flut hat hier in kürzester Zeit alle Erinnerungen weggespült.“ Nur wenige Meter entfernt fließt die Ahr, der kleine Fluss, der in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli 2021 zu einem reißenden Strom wurde und viele der Be­woh­ne­r*in­nen im Schlaf überraschte.

Das rheinland-pfälzische Sinzig wurde, genau wie der restliche Landkreis Ahrweiler, besonders schwer von den verheerenden Wassermassen getroffen. Familie Ataoğlu konnte sich nur noch auf das Dach ihres Hauses retten. Mitten in der Nacht wurden sie evakuiert. Auch wenn der Gedanke an die verlorenen Erinnerungen schmerzt, sagt der Diplomingenieur Ataoğlu, sie hätten immerhin noch ihr Leben. „In der Caritas-Einrichtung für Menschen mit Behinderung sind nebenan zwölf Menschen ertrunken. Die hat keiner rausgeholt.“ Er macht eine nachdenkliche Pause. „Material kann man ersetzen, aber Leben nicht.“

Das Erdgeschoss der Familie Ataoğlu wurde von den Wassermassen der schlimmsten Naturkatastrophe seit 60 Jahren in Deutschland plattgemacht. Bevor sie Ende Januar in das Tiny House gezogen sind, mussten sie im Dachgeschoss ihres zerstörten Hauses wohnen – knapp sieben Monate lang ohne fließend Wasser. Die Siedlung mit 24 Häuschen aus Holz hat die Stadt Sinzig durch Spendengelder der Aktion „Deutschland hilft“ finanziert. Die Ataoğlus zahlen hier 400 Euro Miete monatlich.

„In der ersten Zeit war es eine Erleichterung für uns, endlich wieder eine warme Dusche und ein Bett zu haben. Nach einer Weile wurde es auf so wenig Platz allerdings sehr anstrengend, denn es gibt kaum Privatsphäre.“ Das gilt besonders für die Kinder, erzählt Ataoğlu. Die drei im Alter von 15, 21 und 25 Jahren müssen weiterhin in die Schule oder zur Universität. Da blieb kein Raum, um zu lernen oder das Geschehene zu verarbeiten. „Die Kinder haben heute noch Angst, wenn es regnet.“

Ins Ahrtal gezogen, um zu helfen

Zwanzig Autominuten von Sinzig entfernt, in Bad Neuenahr-Ahrweiler, sitzt die Traumapädagogin Aljona Barz. Die 35-Jährige hat ihren Job und ihre Wohnung in Bielefeld gekündigt, um die Betroffenen im Ahrtal zu unterstützen. Mittlerweile arbeitet sie für die Initiative Hoffnungswerk, die sich nach der Flutkatastrophe gegründet hat. „Genau wie die äußeren Aufräumarbeiten, wird die innere Verarbeitung auch noch Jahre nach der Flut weitergehen“, sagt sie. Viele der Betroffenen kämpfen weiterhin mit dem erlebten Trauma, berichtet Barz. Einige können nachts zum Beispiel nicht schlafen oder bekommen, so wie die Kinder von Familie Ataoğlu, Angst, wenn es regnet.

Ein Mann steht auf einer Mauer, dahinter ein weiß gestrichenes zweistöckiges Haus

Bis zum Kopf: Sinan Ataoğlu demonstriert an seinem Haus, wie hoch das Wasser vor einem Jahr stand Foto: Jennifer Zumbusch

Die Arbeit von Barz besteht darin, die Menschen in der Bewältigung ihres Alltags zu unterstützen. „Einfach irgendwie zu überleben erst mal“, sagt sie. Barz arbeitet mit den Menschen zum Beispiel daran, wie sie ihr Leben wieder selbstbestimmter gestalten können, denn derzeit sei es vor allem fremdbestimmt. „Sie sind abhängig von Behörden, Genehmigungen, Krediten.“

Existenzielle Ängste prägen den Alltag der Betroffenen bis heute. „Einige stehen vor ihrem leeren Grundstück und können nicht anfangen zu bauen, weil sie noch immer keine Baugenehmigung erhalten haben oder ihnen die finanziellen Ressourcen fehlen. Bei anderen wurde erst vor einem Monat das Haus abgerissen, in das sie zuvor ganz viel Arbeit gesteckt hatten.“

Aljona Barz, Traumapädagogin

„Wie die äußeren Aufräumarbeiten wird die innere Verarbeitung noch Jahre weitergehen“

Aus Sicht der Traumapädagogin sind das sehr schwierige Rahmenbedingungen für die psychische Bewältigung der Katastrophe. „Zu den emotionalen Sorgen kommen noch finanzielle, familiäre und bürokratische hinzu. Da bleiben keine Kapazitäten übrig, um das Erlebte zu verarbeiten.“ Immer mehr Betroffene kämen in der letzten Zeit deswegen in die Psychiatrie. „Denn egal wie viel Reserven du hast, irgendwann ist es auch mal aufgebraucht“, sagt Barz, die die Schicksale der betroffenen Familien sichtlich mitnehmen.

„Viele Betroffene haben im Moment das Gefühl, sie wären schwach, denn die Menschen werden – vor allem in den Medien – oft als Opfer bezeichnet“, sagt Barz. „Das, finde ich, ist eine sehr schwierige Wortwahl. Denn im Gegenteil: Sie sind Ex­per­t*in­nen ihrer Situation und richtig starke Kämpfer*innen, die jetzt schon seit einem Jahr alles durchstehen, während wir schon allein durch den Ukrainekrieg und Corona ziemlich am Limit sind.“

14. Juli 2021: Tief „Bernd“ erreicht Rheinland-Pfalz und NRW mit Starkregenfällen. Erste Überschwemmungen und Zugausfälle. Die Pegel der größeren Ströme steigen auf Rekordniveau, aber auch kleinere Flüsse schwellen rasant an. Am Abend wird ein erstes Todesopfer gemeldet. Im Landkreis Ahrweiler steigen die Pegel so rasch, dass sich viele Menschen nicht mehr retten können.

15. Juli: In der Nacht ist die Zahl der Menschen, die ums Leben gekommen sind, auf neun gestiegen. Im Landkreis Ahrweiler werden Orte von der Außenwelt abgeschnitten. Häuser stürzen ein. Etwa 50 Menschen retten sich auf die Dächer ihrer Häuser. Der Katastrophenfall wird ausgerufen. Bahnlinien, Straßen und Autobahnen werden unterbrochen. Die Bundeswehr kommt zum Einsatz.

16. Juli: Da viele überflutete Regionen nur schwer zu erreichen sind, dringen Meldungen über Todesfälle nur langsam nach außen. Am Freitagmittag ist erstmals von 100 Toten die Rede. In den darauffolgenden Tagen steigt die Zahl auf über 180. (afp, taz)

Viele, die seit Generationen in der Region verwurzelt sind, überlegen wegzuziehen. Einige haben es bereits getan. Auch Sinan Ataoğlus Frau wollte nach der Katastrophe so schnell wie möglich weg aus Sinzig. Der 56-Jährige, der in der Kleinstadt aufgewachsen ist, musste sie davon überzeugen, zu bleiben und ihr Haus wieder aufzubauen.

Für diejenigen, die bleiben, gibt es nur wenige Optionen, um sich von der belastenden Realität abzulenken. Alles, was es einst gab, ist heute zerstört. „Zur Verarbeitung des Traumas gehört eben nicht nur, darüber sprechen zu können, sondern auch, dass das Leben weiterhin noch Spaß macht“, erklärt Barz. So versuchen sie und ihr Team auch Momente zu schaffen, wo es bewusst nicht nur um schwierige Themen geht.

Das Café des Hoffnungswerks

Seit April soll ein ungewöhnliches Café-Projekt die notwendige Abwechslung in den Alltag der Betroffenen bringen. Auch Aljona Barz ist dort anzutreffen. Umgeben von leeren Ladenvitrinen in Ahrweiler leuchtet in einem der Schaufenster goldenes Licht in der Altstadt auf. Davor steht ein Schild: „Schön, dass du da bist.“ Seit April hat hier der sogenannte Begegnungsort des Hoffnungswerks eröffnet. Das Café füllt sich so schnell, wie sich die Kuchentheke leert. Das Angebot kommt in der Stadt sehr gut an. Dort sitzen Alt und Jung, Betroffene und Helfer*innen, Be­su­che­r*in­nen und Alteingesessene zusammen.

Um ein Kuchenbuffet stehen viele Leute in schwarzen Shirts und unterhalten sich angeregt

Treffpunkt für Betroffene: Das Café des Hoffnungswerks Foto: Hoffnungswerk e.V.

„Schlimm ist für die Menschen auch die Einsamkeit und die fehlende Ablenkung. Beides wird hier im Café gestillt“, bestätigt Tanja Blüm, die als Koordinatorin des Begegnungsortes tätig ist. Blüm hat sich nach der Flutkatastrophe Urlaub von der Arbeit genommen, um mit einem Bollerwagen mit Café von Haustür zu Haustür zu gehen und mit den betroffenen Menschen ins Gespräch zu kommen.

Mittlerweile arbeitet auch sie Vollzeit bei der Initiative des Hoffnungswerks. Ihre elfjährige Tochter Amelie hilft in den Sommerferien hinter der Theke mit. Für die Verpflegung sorgen außerdem auch die vielen anderen Ehrenamtlichen, die die Gäste in ihren schwarzen Shirts mit Hoffnungswerk-Aufdruck bedienen. Sieben von ihnen, darunter auch die Traumapädagogin Barz, wohnen in einer Wohngemeinschaft über dem Begegnungsort.

Gerufen hat sie der Theologe Sascha Neudorf. Der evangelische Pastor, bekleidet mit Baseballcap, Jeans und Kapuzenjacke, ist seit Beginn bei den Aufräumarbeiten dabei. Dafür wurde er extra von seiner evangelischen Gemeinde in Siegburg freigestellt. Mittlerweile ist der 41-jährige Theologe so etwas wie PR-Manager, Start-up-Gründer, Seelsorger und Handwerker in einem.

Die WG für Verrückte

Während der Bergungsarbeiten ist ihm aufgefallen, dass die Menschen von morgens bis abends nur auf den Baustellen sind. „Ihnen fehlen die sozialen Kontakte und Orte, wo sie sich begegnen können.“ So entstand die Idee eines mobilen Café-Bus, ein umgebauter Reisebus. Um den Café-Bus zu betreiben, suchte er nach Menschen, die längerfristig helfen können. Auf YouTube startete er einen Aufruf und fragte: „Wer ist so verrückt, nächste Woche ins Ahrtal zu ziehen? Wir zahlen die Miete und die Verpflegung.“ Insgesamt sieben Menschen waren damals verrückt genug.

Dabei haben Neudorf und sein Team darauf geachtet, dass die WG-Mitbewohner*innen etwas mitbringen, was gerade in der Region gebraucht wird. „Wir haben großartige Menschen gefunden, darunter auch unsere Traumapädagogin Aljona Barz.“ Mittlerweile gibt es vier solcher Ehrenamtlichen-WGs in Dernau, Altenahr und Ahrweiler. Gemeinsam eröffneten sie auch die beiden Begegnungsorte. Pastor Neudorf und sein Team planen auch schon die nächsten, denn eins wird klar: Nach einem Jahr brauchen die Menschen vor allem Abwechslung in ihrem durch die Flut bestimmten Alltag.

Wenn man Pastor Neudorf fragt, wie die Betroffenen dem bevorstehenden Jahrestag der Flutkatastrophe entgegenblicken, zeigt sich einmal mehr, Trauer und Trauma werden auf unterschiedliche Weise verarbeitet. „Die einen trauern still, die anderen feiern, dass sie noch am Leben sind“, antwortet Neudorf. Während in Altenburg im Landkreis Ahrweiler der Tag in kleinem Kreis und Gedenken an die Ertrunkenen begangen wird, soll es im Nachbarort Kreuzberg eine große Veranstaltung mit Konzerten und Spesen geben, erzählt er.

Sinan Ataoğlu wird zu keiner der Gedenkveranstaltungen gehen. Der Diplomingenieur sieht keinen Sinn darin, die ganzen Erinnerungen wieder hochkochen zu lassen. „Ich will das alles vergessen, dafür brauche ich keinen Jahrestag. Es wird zu viel Geld in die Veranstaltungen reingesteckt, das beim Wiederaufbau dann fehlt.“ Der Landkreis Ahrweiler hatte im Vorfeld 150.000 Euro für die Gedenkveranstaltung angesetzt. Nach Protesten wurde der Betrag auf 30.000 Euro gekürzt.

Ein Mann mit Bascap und Brille spielt mit einem Jungen in einem Bus mit Helicopter- und Baggerspielzeug

Pastor Neudorf mit Samuel im Trauma-Bus Foto: Hoffnungswerk e.V.

Von der Kommune hat Familie Ataoğlu außer der Bewilligung des Härtefallantrags nur sehr wenig finanzielle Unterstützung erhalten. Den lokalen Po­li­ti­ke­r*in­nen vertraut er nicht. In seiner Stadt wurden keine Maßnahmen getroffen, um eine weitere Flut zu verhindern, sagt Ataoğlu. „Irgendwann wird es uns wieder treffen, denn die Politik hat nichts gelernt.“

Wohl bald kann die Familie wieder in ihr Zuhause zurückkehren. Am meisten freut sich der Vater auf seinen Alltag. Er erzählt, dass er heute nach einem Jahr das erste Mal die Wäsche wieder zu Hause waschen konnte. „So etwas ganz Banales, aber es ist ein großartiges Gefühl, endlich wieder zu Hause waschen zu können.“

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