Erster Film von Paul B. Preciado: Jenseits von Geschlechter­grenzen

Der Queer-Theoretiker Paul B. Preciado hat mit „Orlando, meine politische Biografie“ einen filmischen Essay zu Virginia Woolf verfasst.

Mann auf Bett

Ein Orlando in „Orlando, meine politische Biografie“ Foto: Foto: Salzgeber

Das Poetischste an diesem Film ist die Idee dahinter. Dabei ist der Ansatz von „Orlando, meine politische Biografie“, wie der spanische Philosoph Paul B. Preciado zu Beginn – nicht ohne ironischen Unterton – erläutert, aus der Not geboren: Jemand habe ihn mal gefragt, warum er nicht seine Biografie schreibe. Darauf entgegnete er, dass „die verfluchte Virginia Woolf“ das schon getan habe, „bereits im Jahr 1928“.

In „Orlando“ imaginierte die britische Schriftstellerin einen gleichnamigen jungen Adligen, der ausgehend vom elisabethanischen Zeitalter mehrere Jahrhunderte durchlebt, ohne zu altern, allerdings im Schlaf das Geschlecht wechselt. Für Preciado, einen der bedeutendsten Queer-Theoretiker unserer Zeit, ist die Erzählung nicht nur eine Utopie über das Ende der binären Geschlechterordnung. Sie eröffnete ihm auch einen Möglichkeitsrahmen, seine eigene Zukunft wurde plötzlich denkbar.

Seinen ersten Film nimmt er zum Anlass, um Virginia Woolf posthum einen Brief zu schreiben. Nachdem sie seine Biografie vor seiner Geburt verfasst hatte, ist eine Replik nach ihrem Tod schließlich nur fair. Er soll eine Würdigung ihres Werkes sein und eine Art literarischer Appendix. Manches habe die Autorin, die ihr Buch nun einmal vor beinahe 100 Jahren verfasste, in Bezug auf Transsein eben nicht ganz richtig dargestellt.

„Orlando, meine politische Biografie“. Regie: Paul B. Preciado. Frankreich 2023, 98 Min.

Auch das führt Preciado selbstverständlich mit einem Augenzwinkern aus. So habe er sich zwar in vielen Nächten das eigene Bett als schmerzlosen Operationstisch vorgestellt, eine Transition im Schlaf herbeigesehnt, doch die Realität – trans* Menschen riskieren täglich ihr Leben – sieht leider ganz anders aus.

Andere erzählen lassen

Das Vorhaben klingt überaus reizvoll, verspricht, Künstlerisches mit politischer Dringlichkeit zu verbinden. Doch das weitere Geschehen in „Orlando, meine politische Biografie“ gestaltet sich anders, als es der Auftakt vermuten lässt. Preciado tritt weit­gehend in den Hintergrund und lässt hauptsächlich andere, genauer 25 Personen im Alter zwischen acht und 70 Jahren, die sich ebenfalls als trans oder nicht-binär identifizieren, zu Wort kommen.

Der Ablauf, mit dem sie sukzessive in die Handlung eingeführt werden, ist immer gleich: Sie tragen in Anlehnung an die literarische Vorlage eine weiße Halskrause, stellen sich mit ihrem Namen vor und ergänzen dazu: „In diesem Film werde ich Orlando von Virginia Woolf sein.“ Das Ansinnen dahinter ist ein Statement: Orlando gibt es wirklich und zahlreich. Sie eint eine kollektive Geschichte, und doch ist ihr Abweichen von tradierten Geschlechternormen immer individuell.

Das ist einer der Kerngedanken, die Preciados Film transportiert: Transsein ist nichts Pathologisches, es ist auch nicht immer als der Wunsch nach dem Wechsel vom einen ins andere Geschlecht zu verstehen, sondern kann die Ablehnung einer Einordnung in das binäre Verständnis von Geschlecht bedeuten.

Verdeutlicht wird das durch die höchst unterschiedlichen Erlebnisse, von denen die Orlandos berichten. Im Film treten sie jedoch nicht schlicht als Interviewte auf, sondern sind zugleich Schau­spieler*innen, die vor einem zum Inhalt des jeweiligen Textabschnitts passenden Hintergrund einzelne Passagen aus Virginia Woolfs Werk vortragen.

Vermischte Genres

Die persönlichen Ausführungen verschwimmen dabei mit der Literatur. Dass Autobiografisches und Fiktion nicht immer voneinander zu unterscheiden sind, lässt sich ebenso als Meta-Aussage über das Überwinden von Grenzen lesen wie die Tatsache, dass auch der Film selbst die Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm durchbricht.

Das ist wahrscheinlich die größte Schwäche von „Orlando, meine politische Biografie“: Paul B. Preciado richtet sein Hauptaugenmerk auf eine verkopft wirkende Stilisierung in der Inszenierung seines Films und erzielt in der Absicht, Freiräume abseits eingespielter Sehgewohnheiten zu schaffen, das genaue Gegenteil.

Die Form seines essayistischen Films wirkt nicht experimentell offen, sondern einengend. Sie verhindert das Eintauchen in die Erfahrungen seiner Protagonist*innen, indem ihre Geschichten auf die Größe eines Vehikels geschrumpft werden, um das übergeordnete Statement zu unterstreichen.

Das Potenzial, wirklich Substanzielles auszusagen, muss sich immer wieder dem Willen zur Dekonstruktion etablierter filmischer Erzählformen zugunsten vermeintlich spielerischer Darbietungen unterordnen. In einer Sequenz etwa betritt ein Orlando in Fragmenten einer Ritterrüstung ein Waffengeschäft, um dort ein „Kennzeichen der Männlichkeit“ zu erwerben.

Entwaffnete Frauen

Er verlässt den Laden schließlich mit einer AK-47 – die Einsicht, was es bedeutet, in einer patriarchalischen Gesellschaft ein Mann zu sein, erklärt Preciado aus dem Off: „Nicht nur das Recht, Gewalt auszuüben, sondern eher die Verpflichtung zu haben, dies zu tun.“ Kurz darauf betritt eine weitere Orlando dasselbe Geschäft, um ein Kampfgerät abzugeben. Der Erkenntnisgewinn: „Eine Frau zu werden, heißt entwaffnet zu werden.“

Andere Szenen setzen sich mit der Schwierigkeit auseinander, in einem restriktiven Gesundheitssystem an Hormone zu gelangen, oder aber mit Diskriminierungserfahrungen durch das Angewiesensein auf amtliche Dokumente, die nur binäre Zuschreibungen vorsehen, die sich obendrein bloß durch einen langwierigen Prozess verändern lassen.

„Orlando, meine politische Biografie“ zeigt somit auf, was Zuschauer*innen, die am Rande mit queeren Themen vertraut sind, bereits bekannt sein dürfte. Illustriert dies aber auf eine Weise, die zu unzugänglich für ein Publikum sein dürfte, das sich noch nicht damit auseinandergesetzt hat.

Anstatt sich die Frage zu stellen, an wen sich dieser Film richtet, sollte man ihn wohl als das verstehen, was er vermutlich auch in erster Linie sein soll: eine emanzipatorische Selbstbehauptung, die keinerlei Wert darauf legt zu gefallen. Und wahrscheinlich genau dadurch Gefallen erregt.

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