: Erste freie Wahl in einem Dorf
Neuer Gemeinderat in Mildensee / Der eingemeindete Ort setzte seine Unabhängigkeit von Dessau durch / Die Parteizugehörigkeit der KandidatInnen spielte keine Rolle ■ Aus Mildensee Catrin Lindhorst
Im Klubhaus der Werktätigen in Mildensee bei Dessau waren am Sonntag seit acht Uhr die Türen geöffnet: Hier fand die erste freie Gemeinderatswahl in der DDR statt. Dabei ging es nicht darum, PDSler von ihren Posten zu vertreiben, sondern um ein lokalpolitisches Ereignis besonderer Art: Mildensee wollte seinen Status als unabhängige Gemeinde wiedererlangen. Der Ort mit seinen 2.200 Einwohnern war 1952 von Dessau eingemeindet worden. Nach vielen Diskussionen mit dem Stadtrat drückten sie ihre Idee, Wahlen zu einem eigenen Gemeinderat abzuhalten, durch und erreichten damit die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit.
Am Wahltag sitzt Angelika Storz erschöpft auf einem Stuhl im Gemeindesaal des Klubs. Sie gehört zur Basisgruppe des Neuen Forums und hat sich aktiv an den Wahlvorbereitungen beteiligt. Parteizugehörigkeiten spielen jedoch im Moment keine Rolle. Die BürgerInnen haben Personen ihres Vertrauens vorgeschlagen, und so stehen auf den Stimmzetteln nur die Namen der 28 KandidatInnen. Zwölf sollen den neuen Gemeinderat bilden.
Die WahlhelferInnen haben alle Hände voll zu tun. Viele WählerInnen wollen ihre Kreuze gleich auf den Stimmzettel malen, aber halt, diese Zeiten sind vorbei: rechts an der Wand stehen vier Wahlkabinen. Bei den OrganisatorInnen ist die Stimmung gespannt. Sie fürchten eine geringe Wahlbeteiligung. Aus dem Nichts haben sie ein Wahlgesetz gezimmert, mit selbstgemalten Pappschildern für die Stimmabgabe geworben.
Die Auszählung findet in der Gaststätte des Klubhauses statt. Um 19 Uhr verkündet Frau Schneider, die Pastorin, das Ergebnis. Von 1.800 Wahlberechtigten haben 997 ihre Stimmen abgegeben, darunter 942 gültige. Dann verliest sie die Namen der zwölf Gewählten. Angelika Storz nimmt schon die ersten Bierbestellungen auf. Sie strahlt über beide Ohren. Der Einsatz hat sich gelohnt. Außerdem ist sie eine der sechs Frauen im neuen Rat. Rüdiger Treffkorn zahlt die erste Runde - bei der Schnapszahl von 444 Stimmen kommt er nicht drumrum.
Mich interessiert nun doch die Parteizugehörigkeit der Zwölf. Die Pastorin fragt herum: Vier sind vom Neuen Forum, drei parteilos, je zwei von der NDPD und der LDPD, und einer von der PDS. Spitzenreiterin ist die Pastorin, die Mitglied des Neuen Forums ist.
Der Dessauer Stadtrat Klaus Hoffmann überreicht dem Gremium eine Blankourkunde für den noch zu wählenden Bürgermeister von Mildensee. Jetzt wird aber erst einmal gefeiert.
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