piwik no script img

Erste Parlamentswahlen nach GaddafiLibyer feiern ihre freie Entscheidung

Wenn der Urnengang zum Erlebnis und die Abstimmung mit einem Autokorso gefeiert wird, dann ist Wahl in Libyen. Ergebnisse werden in den nächsten Tagen erwartet.

Der Finger tintenschwarz, die Stimmung ausgelassen: Libyer feiern die Abstimmung mit einem Autokorso. Bild: reuters

TRIPOLIS taz | Die Feierlichkeiten in Tripolis nach Schließung der Wahllokale bei den libyschen Parlamentswahlen waren symptomatisch für den Zustand des nordafrikanischen Landes. In der Omar-al-Mukhtar-Straße, ein paar hundert Meter hinter dem Platz der Märtyrer, auf dem Gaddafi seine letzte öffentliche Rede gehalten hatte, stauen sich die Autos mit schwarz-rot-grünen Fahnen schwenkenden und begeisterten Menschen, die die erste landesweite Wahl nach 40 Jahren Gaddafi feiern.

Ein Gruppe leicht überforderte Milizionäre, die Kalaschnikows locker über den Rücken geschwungen, versucht verzweifelt, den Verkehr zu regeln, während die Insassen zweier im Stau stehender, rot-weißer nagelneuer Polizeiautos wie kleine Kinder in das allgemeine Hupkonzert mitstimmen, den Milizionären freundlich zuwinken und singen: „Hebt euren Kopf, wir sind alle freie Libyer“. Eine interessante Autoritätsaufteilung im Zentrum von Tripolis.

Der Grund der Feier: Trotz so mancher Unkenrufe war der Wahltag weitgehend friedlich und fair verlaufen. In 98 Prozent der Wahllokale waren die Stimmen abgegeben worden. Die Beteiligung lag bei 60 Prozent. Störaktionen einer selbst im Osten des Landes kleinen Minderheit von Separatisten, blieben eine Randerscheinung.

Bei einer Schießerei in der Nähe eines Wahllokales in der östlichen Kleinstadt Ajdabiya starb eine Person und zwei wurden verletzt; in mehreren Wahllokalen wurden Urnen angezündet. Am Vortag war in der Nähe ein Hubschrauber mit Wahlmaterial von Unbekannten beschossen worden, dabei kam ein Wahlhelfer ums Leben.

Selbst Bengasi jubelt

Aber selbst auf den Straßen Bengasis im Osten des Landes, der Hochburg der Separatisten-Bewegung, die die Sitzverteilung im jetzt gewählten Nationalkongress als ungerecht empfindet, waren die Wahlen Samstagnacht gefeiert worden.

Die bisherige Regierung, der Übergangsrat, hatte bestimmt, dass die Sitze im ersten Übergangsparlament nach dem demographischem Gewicht der Provinzen zugeteilt werden. Danach hatte im 200 Sitze großen Parlament der bevölkerungsreiche Westen des Landes 100, der Osten 60 und der Süden 40 Sitze erhalten.

Änderung in letzter Minute

Das neue Parlament wird nun eine Regierung bestimmen und ein Jahr lang Gesetze erlassen. Nach den Spannungen im Osten hatte der Übergansrat in allerletzter Minute vor den Wahlen erklärt, dass der Nationalkongress nun doch nicht das Recht habe, ein Verfassungskomitee zu bestimmen. Das solle in einem separaten Vorgang geschehen. Details waren zunächst nicht bekannt.

Stolz in Bengasi. Bild: dpa

Männer und Frauen hatten sich schon in den frühen Morgenstunden fein getrennt vor den Wahllokalen in Tripolis aufgestellt. Vor allem für die älteren war es ein sehr emotionaler Tag. Nachdem er seine Stimme abgegeben hat, kommt der Zahnarzt Nasr Eddin Et-Takalli aus dem Wahllokal und hebt seine Hand mit dem in nichtabwaschbarer Tinte getauchten Finger zum Siegeszeichen. „Ich bin 60 Jahre alt, in diesem Alter habt ihr in Europa schon 20 mal gewählt. Ich kann dir nicht beschrieben, wie gut sich das anfühlt“, erklärte er.

Dann kommt eine ganz besondere Erstwählerin. Auf wackligen Beinen und gestützt von ihrer Tochter, lassen die Frauen in der Warteschlage die 84-jährige Kamari Tekbali nach vorne. Sie lächelt. „Ich habe nie gedacht, dass ich das noch erleben darf“, sagt sie mit schwacher Stimme um dann noch ein „Gott ist groß“ hinzuzufügen.

Dankesgebet im Wahllokal

Auch die 20jährige Studentin Malak Shanbar mit ihrem T-Shirt mit der Aufschrift „Proud to be Libyan“ ist voller Überschwang. „Das ist meine erste Wahlerfahrung, nicht nur für mich, sondern für alle Libyer nach 42 Jahren Gaddafi. Vorher sind wir fast erstickt, und jetzt können wir bestimmen, wie wir das neue Libyen aufbauen“, erklärt sie.

Ein junger Mann, eingehüllt in der Nationalflagge steckt seinen Wahlzettel in die Urne, um sich zu einem kurzen Dankesgebet im Wahllokal auf den Boden zu werfen. „Wir danken den Toten des Aufstandes gegen Gaddafi, die mit ihrem Blut diesen Festtag möglich gemacht haben“, steht auf dem T-Shirt eines anderen jungen Mann, der sich am Eingang postiert hat.

Jetzt wartet das Land mit Spannung, ob sich eher das islamisch-konservative Lager oder die liberalen Parteien durchgesetzt haben. Erste Trends hat die oberste Wahlkommission für Montag versprochen. Bei 140 Parteien und 3.700 angetretenen Kandidaten und Kandidatinnen dürfte es allerdings ein paar Tage dauern, bis das Endergebnis verkündet werden kann.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • BG
    Bernd Goldammer

    @Hari Seldon

    Vielen Dank für den informativen Beitrag.

  • P
    Peter

    @Hari Seldon: Zustimmung. Nicht zu vergessen, daß viele, die der Anhängerschaft Gadaffis verdächtigt wurden, von vornherein von den Wahlen ausgeschlossen worden waren, genauso wie die Einwohner mehrerer von den "Rebellen" zerstörter Ortschaften.

    So hat der Westen sich halt einen neuen islamistischen Staat herbeigebombt.

  • BW
    Barack W. Busch

    Jetzt kriegen die Libyer einen Hauch unserer korrupten Postdemokratie, aufgepropft auf ihr anarchisches Chaos aus Milizen, Islamisten und westlichen Ölbaronen.

     

    Unter Ghaddafi war Libyen das wohlhabendste Land ganz Afrikas, und immerhin waren es nur korrupte Libyer, die sich an den Erdöleinkünften bedient haben - der größte Teil ist tatsächlich bis zum Volk durchgesickert. Jetzt haben die Libyer nicht mal mehr das: entweder bringen diese Wahlen eine Marionettenregierung des Westens und seiner Ölkonzerne an die Macht, oder gleich die Islamisten.

     

    Herzlichen Glückwunsch, Libyer! Mal sehen, ob wir dieselbe Nummer demnächst auch in Syrien und im Iran durchziehen können - hoffentlich verschlafen die Russen und Chinesen auch das!

  • HS
    Hari Seldon

    Der 84 Jahre alter Mann sagt, dass er erstmals in seinem leben wahlen darf. Nun Gaddafi war nur 42 Jahre lang dabei, so es gabmindestens seit 64 Jahren keine Wahlen. Davor war Libyen eine Kolonie, auch ohne Wahlen... Die TAZ blamiert sich selbst. Libyen hat 6,5 Mio Einwohner, und davon nur 2 Millionen Wahlrecht... Männer und Frauen separat aufgestellt: "Sehr demokratisch". Unter Gaddafi waren die Frauen gkleichberegtigt: 50% der Bevölkerung (Frauen) wurde zum Mensch zweiter Klasse zurückdegradiert. Sehr demokratisch und menschenrechtkonform, versteht sich...