Eröffnung der Art Basel: Auferstehung der Kunstkritik
Am Donnerstag eröffnet die Art Basel/Miami Beach. Die erste Kunstmesse der Zukunft, wie sie gerühmt wurde, könnte auch schon die erste der Vergangenheit sein.
Garbage Collection nennt man einen Prozess, mit dem Rechner ihren Speicher reinigen. Dabei sieht eine kleine Routine die im Speicher gehaltenen Daten daraufhin durch, ob sie noch gebraucht werden. Findet sich niemand, der mit einem Datensatz noch etwas anzufangen weiß, so wird er gelöscht.
Eine Routineuntersuchung dieser Art steht nun den Kunstsammlungen ins Haus. Die Revision wird die Sammler vor eine große Frage stellen. Was haben sie in den letzten Jahren am Kunstmarkt erworben? Dekorative Objekte oder Dinge von kultureller Bedeutung? Solange die Preise gestiegen sind, konnte sich der Wert eines Werks spekulativ bilden. Kunstobjekte aller Art werden recht wahllos nachgefragt, solange sie potenziell mit Gewinn weiterverkauft werden konnten. Aber die Lage ändert sich schlagartig, wenn die Nachfrage nachlässt. Dann wird sortiert. Denn nicht alle Preise fallen auf breiter Front, sondern einige stark und andere nicht.
Man könnte die Frage unter dem modischen Begriff der Nachhaltigkeit abhandeln. Aber Kunst ist kein natürlich nachwachsendes Gut, sondern wird von Menschen gemacht. Der Begriff Bedeutung führt gleichfalls in die Irre, samt seiner Geschwister Substanz oder Qualität. Als könnte man ein verbindliches Maß der Güte heranziehen, um zwischen guten und schlechten Werken zu unterscheiden. Dazu ist der Markt viel zu erratisch und die Kunst viel zu klug, viel zu reflexiv. Längst haben Künstler selbst das vermeintlich Schlechte bewusst erprobt. Autoritäten und normative Wertbegriffe werden unterlaufen, sowie sie sich zeigen. Und gleichzeitig gibt es keine Position mehr, die sich noch eine Urteilsmacht oder eine plötzliche Übersicht anmaßen könnte.
Was die Sammler interessieren dürfte, ist weniger Bedeutung als viel mehr dauerhafter Wert. Aber nicht die Urteile garantieren Dauer. Sondern einerseits der simple Fakt, dass etwas gespeichert und erhalten bleibt, und andererseits ein andauerndes lebendiges Interesse. Vieles liegt heute in der Macht der Sammler, aber gerade Letzteres nicht. Denn sie können eben nur sammeln. Dann müssen sie hoffen, das ihre Sammlungen von irgendwoher mit Sinn und Leben versehen werden. Denn genau darin unterscheidet sich eine geglückte Sammlung von einer Garbage Collection. Lebendiges Interesse schreibt sich als Zeiger fort in jene Zukunft, aus der die Werke ihre Dauerhaftigkeit gewinnen. Es handelt sich um eine Zukunft der Akteure, der Interessierten, eine Zukunft, in der Künstler sich auf die Werke unserer Gegenwart beziehen werden, in der Kuratoren oder Galeristen Positionen wiederentdecken und in der Kunsthistoriker sie in Geschichte umschreiben. Dass der Frage der Geschichtlichkeit wieder mehr Wert beigemessen wird, lässt sich an vielen Indizien ablesen. Zuletzt zeigten nicht nur Großausstellungen, sondern auch Galerien vermehrt nicht nur allerjüngste Kunst, sondern auch historische Positionen, Vorläufer und Anreger.
Einiges spricht dafür, dass der Kunstkritik im Zug einer Revision eine wichtige Rolle zufallen könnte. Zuletzt wurde von allen Seiten ihr Ende ausgerufen. Kuratoren galten als die Agenten des Kommenden. Sie setzten Themen und Impulse. Kritiker dagegen hatten sich dem erratischen Willen des Marktes unterzuordnen. Ihre Unwichtigkeit durften sie bei Großausstellungen kompensieren, die ihnen regelmäßig Anlass zu Festen kollektiver Nörgelei boten. Die prekäre Bezahlung trägt ein Übriges zu ihrem Bedeutungsverlust bei. Wer vom Schreiben über Kunst leben wollte, verdingte sich zuletzt am besten als Katalog-Werbeschreiber oder gleich direkt bei einem erfolgreichen Künstler, um Gebrauchsanleitungen zur Hängung und Pflege seiner Werke zu verfassen.
Warum also sollte ausgerechnet die Kunstkritik auferstehen? Weil sie jenen ersten Schritt geht, der einem Werk einen Zeiger aus seiner bloßen Gegenwart heraus gibt. Gerade weil der Text nachträglich kommt und dem Werk folgt, geht er ihm in die Zukunft voraus. Zu diesem Vorausgehen trägt auch der Umstand bei, dass Zeit heute nicht mehr im Modus der Moderne gemacht wird. Anders gemacht als noch zur Blütezeit der Moderne, schreitet die Kunstwelt heute nicht mehr in einer Abfolge von Avantgarden voran. Es gibt keinen Fortschritt mehr in der Kunst. Und es ist nicht einmal schlecht, dass diese hysterische Form der genuin modernen Zeitlichkeit passé ist. Der historisierende Impuls, der die Positionen der Avantgarden überhaupt erst möglich machte, ist versiegt. Verschiedenste Genres und Strömungen laufen parallel zueinander. Rückbezüge auf Vergangenes sind wahllos. Oft herrscht gar eine gewisse Vergesslichkeit, die leicht zu Wiederholungen führt. Kunstmessen lassen sich in ihrer orientierungslosen Vielfalt am besten mit den akademischen Salon-Ausstellungen des 19. Jahrhunderts vergleichen. Alles in allem erinnert vieles an eine späte Romantik, wieder aufgeführt unter den Bedingungen des transnationalen Kapitals.
Was kann Kritik in dieser Lage unternehmen? Es gibt zwei unterschiedliche Sprechweisen der Kritik. Nennen wir sie das Festhalten und das Fortschreiben. Das Festhalten tritt dem Werk entgegen. Die festhaltende Kritik sucht ein Urteil. Sie hält eine Position in der Bewegung fest. Das Fortschreiben macht das Gegenteil. Es geht vom Werk aus, um es in Bewegung zu setzen und von ihm aus einen Gedanken zu entwickeln. Benjamin hat einen vergleichbaren Gegensatz in seiner Untersuchung über die Kunstkritik der Romantik gefunden. Der romantische Kritiker setzte sich deutlich vom Kunstrichter ab, der urteilen will. Damals war, so Benjamin, Reflexion der entscheidende Begriff, sowohl in der Kunst als auch im Schreiben darüber. Dem Kritiker fiel die Aufgabe zu, mit dem Werk zu arbeiten, es schreibend zu vollenden oder weiterzudenken. In diesem Sinn konnte Kritik fragmentarisch, abwegig, verärgert, essayistisch und subjektiv sein. Nur distanziert zu beschreiben oder zu urteilen, das konnte sie sich sparen.
Doch heute scheint gerade die fortschreibende Kritik dem Risiko ausgeliefert zu sein, dem Markt hinterherzuschreiben. Gibt sie doch den Anspruch auf, dem Werk "objektiv" gegenüberzutreten. Aber gerade diese vermeintlich Objektivität hat ihren Anspruch auf interesselose Erkenntnis letztlich nicht erfüllt. In Letzter trifft man auf zwei verschiedene Arten von Kritik. Auf der einen Seiten steht der Diskurs der Spezialisten und der Insider, wie er in den intellektuelleren Kunstzeitschriften geführt wird. Wer dort schreibt, ist in der Regel Teil des Betriebs, allzu oft in ein Geflecht von Akademien, Galerien, Museen, Sammlern und deren Interessen eingebunden. Man pflegt einen Amtsblatt-Stil, um Material für künftige Kunsthistoriker zu liefern. Leider ändert die vermeintliche Objektivität des akademischen Diskurses wenig an den Interessen der Beteiligten. Sie kaschiert sie nur. Dagegen verfällt die Kritik, die sich an ein größeres Publikum richtet, oft der Kunstwelt als sozialem Ereignis. Sie hechelt dem letzten heißen Scheiß hinterher, versammelt die Promis der Szene zu Gruppenporträts und beschreibt Betrieb als Boulevard.
Eine Kritik, die das Werk fortschreibt, setzt nicht bei der Person, sondern beim Werk ein. Sie versucht, eine Spur nach vorne zu legen, die vom Werk aus weiterführt, wenn die Ausstellung längst vorbei ist. Die Kritik operiert in der derselben Logik der Verknüpfung, die auch das Internet prägt. Indem sie das Werk fortschreibt, gibt sie ihm Relevanz. Und Relevanz ist etwas anderes als ein Urteil. An die Stelle eines autoritären Anspruchs auf Bedeutung tritt das Spiel der Stimmen und die Summe der Verknüpfungen. Ob gedruckte Zeitungen noch der Ort dieser Kunstkritik sein können oder ob sie sich vornehmlich im Internet ereignen wird, bleibt offen. In jedem Fall dürfte es aber dazu kommen, dass die bevorstehende Revision der Sammlungen der Kunstkritik zu neuer Bedeutung verhilft. Denn sie kann der kleinen Routine der Garbage Collection etwas entgegensetzen.
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