■ Ernst Klee, Autor zahlreicher Bücher und Artikel zur Medizingeschichte des Nationalsozialismus, erhält am 24.November in der Münchner Ludwig-Maximilian-Universität den Geschwister-Scholl-Preis Von Lars Langenau: „Die NS-Forschermentalität lebt“
Geehrt wird der Publizist dafür, „Tabuthemen“ aufgegriffen zu haben – „besonders im Dienste der Benachteiligten und Behinderten“.
taz: Ihr Buch „,Euthanasie‘ im NS- Staat“ beschrieb vor zwölf Jahren erstmals umfassend die medizinischen Verbrechen im Dritten Reich. Welche Resonanz hat es damals darauf gegeben?
Ernst Klee: Vor allem Historiker reagierten abwehrend: Wie kann sich ein Journalist mit dieser Thematik befassen? In Wahrheit hatte sich die traditionelle Geschichtswissenschaft für diese Thematik nicht interessiert. Deshalb wurde mein Buch auch einmütig abqualifiziert. Selbst der WDR lehnte es ab, über die NS-Euthanasie einen Film zu produzieren.
Manche Themen brauchen vielleicht länger, um als wichtig erkannt zu werden.
Ja, einerseits ist das richtig. Aber die Ignoranz hatte nach meinem Empfinden auch damit zu tun, daß man die angebliche Minderwertigkeit der Opfer noch immer im Kopf hatte – wenn auch unbewußt.
Wurde dieses Jahr Ihr neues Buch „Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer“ weniger abwehrend aufgenommen?
Völlig anders. Möglicherweise hat es mit dem 50. Jahrestag des Nürnberger Ärzteprozesses zu tun; auch mit den Arbeiten des Historikers Götz Aly und meinem „Euthanasie“-Buch. Sie haben einen wichtigen Forschungsboom ausgelöst.
Zudem begannen die Täter vor zwölf Jahren auch, sich selbst zu outen.
Mediziner aus den Kindermordabteilungen, die sich unter dem Begriff der „Kinderfachabteilung“ sammelten, drohten mit juristischen Schritten, wenn ihre Namen genannt werden.
Auch Gutachter, die Persilscheine für belastete Ärzte ausstellten, mußten sich plötzlich ihrer Vergangenheit stellen.
Einer bot mir an, mit ihm zu überlegen, ob er schuldig wurde – durch Nichtwissen: Er war Ehrenbürger und Karnevalspräsident seiner Stadt. Nach dem Krieg hat er den organisierten Frohsinn an den Bodensee geholt, rühmte er sich.
Über seine andere Vergangenheit wurde geschwiegen?
Ja, ausnahmslos. Aber nun sah er sich in meinem Buch mit seinen Taten konfrontiert. Doch der Bürgermeister dieser Stadt sah keine Veranlassung, die Ehrenbürgerschaft aufzuheben. Heute sind es oft die Kinder der Täter, die nachfragen, ob ihre Väter getötet haben.
Ihr Buch wurde als bloße „Aneinanderreihung von Dokumenten“ kritisiert.
Was hätte ich diese Grausamkeiten noch kommentieren sollen? Trotzdem habe ich es dort getan, wo erläutert werden mußte. Nur ein Beispiel: Meine Forschungen in Justizakten und anderen Quellen beleuchten erstmals die Förderung von Menschenversuchen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).
Von welchen sprechen Sie?
Beispielsweise von den Versuchen Professor Georg Schaltenbrands, Psychiatriepatienten mit Multipler Sklerose zu infizieren. Das war der Öffentlichkeit unbekannt. Der Mediziner war nach 1945 der führende deutsche Neurologe und „MS- Papst“. Unbekannt war auch, daß zum Beispiel Hoechst schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten Präparate an nicht einwilligungsfähigen Personen testete.
Und daß die Wehrmacht der Hauptauftraggeber von Menschenversuchen war.
Oder daß die deutsche Armee Gaskammern betrieb. Auch daß Kriegsgefangene systematisch als Versuchsopfer benutzt wurden und die Konzentrationslager als Labore der Pharmaunternehmen gedient haben – das war bis dahin unbekannt.
Mußte die Geschichte über den Arzt Josef Mengele wirklich ergänzt werden?
Ja, denn er war kein Monstrum, sondern ein gebildeter, kalter Humangenetiker. Zudem beschreibe ich ausführlich die Rolle der KZ-Ärzte, die Häftlinge nicht behandelten, sondern zur Vernichtung selektierten. Die ehemaligen KZ-Ärzte arbeiteten in aller Regel nach dem Zweiten Weltkrieg als praktische Ärzte.
Wie erträgt man die Dokumente einer von Ethik befreiten Medizin?
Das hat mich fassungslos gemacht. Vor allem, weil diese Tätergruppe eine war, die sich aus der bildungsbürgerlichen Elite des Landes zusammensetzte, honorige Menschen, von denen viele später das Bundesverdienstkreuz erhielten. Ihre Opfer wurden nach der Befreiung wesentlich schlechter behandelt. Juden, denen man in Auschwitz die Haut verbrannte, wurden später nicht entschädigt, weil, so wörtlich, „es sich um eine therapeutische Maßnahme gehandelt“ habe.
Seit 1931 existierte in Deutschland der weltweit einzige weitreichende Patientenschutz, eine Art Richtlinie amtlicher Anordnungen zur Forschung am Menschen. Weshalb kam es gerade hier zu diesen beispiellosen Taten?
Ich weiß nicht, wie so ein Papier gewirkt hat. Aber schon in den zwanziger Jahren wurde die Wirkung von Malaria-Präparaten von Bayer-Leverkusen an Patienten der Psychiatrie in Düsseldorf praktiziert. Die Psychiatriebewohner wurden dazu künstlich mit Malaria angesteckt. Es scheint so, als wären die Einschränkungen von Menschenversuchen auch heute nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben wird. Die Erprobung von Pharmaprodukten geschieht heute, wenn ich richtig informiert bin, in der Dritten Welt.
Im Dritten Reich wurden die Ergebnisse der Menschenversuche jedoch nicht publiziert.
Weil „der Feind ja mithörte“. Wissenschaftliche Versuche wurden ab 1942 unter anderem als Experimente an Ratten getarnt – was wiederum nationalsozialistischer Logik entspricht: Die Opfer galten ja nicht als Menschen, sondern als Objekte, als Stücke lebensunwerten Lebens. Kein „arischer“ Häftling wurde diesen Versuchen unterzogen. Überlebende Opfer wurden geisteskrank durch die Versuche, die an ihnen unternommen wurden.
In späteren Gerichtsverfahren drehte man das um. Nun wurde behauptet, die Versuche seien an Geisteskranken unternommen worden.
Die Männer, die die perversesten Versuche unternahmen, blieben honorige Mitglieder der Gesellschaft. Dr. Fritz Fischer zum Beispiel hatte sich in Ravensbrück an Versuchen an polnischen Frauen beteiligt. Ihnen wurden die Beine auf dem OP-Tisch zertrümmert, Schmutz in die Wunde getan, um Gasbrand zu erzeugen. Fischer schnitt einer im KZ wahnsinnig gewordenen Frau das gesamte Schulterblatt heraus. Obwohl das durch den Nürnberger Ärzteprozeß 1947 bekannt war, wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Pharmaunternehmens Boehringer.
Waren nicht viele Institute an den Versuchen beteiligt? Warum hat fast niemand der Mitwisser Reue gezeigt?
Weil alle glaubten, niemals gegen ärztliches Ethos verstoßen zu haben. Das ist es vielleicht, was mich noch immer forschen läßt: diese Ignoranz gegenüber den Leiden der Opfer.
Die Versuche hatten ja eine Vorgeschichte. Die Schaffung einer homogenen Gesellschaft wurde vielfach als „soziale Utopie“ begriffen.
Eugenik und Rassenhygiene galten in den dreißiger und vierziger Jahren als modern. Erst langsam begreifen wir, daß das kein ausschließlich rechter Gedanke war. Auch Sozialdemokraten und Sozialisten eigneten sich eugenische Gedanken an: In Schweden wurden ja, wie kürzlich enthüllt wurde, Menschen zwangssterilisiert. Auch in den USA und Japan wurden Versuche an Menschen unternommen. Damit will ich das deutsche Problem nicht internationalisieren und damit verharmlosen: Es gab nur eine Nation, die versuchte, alle Behinderten ihres Landes zu ermorden.
In der aktuellen Debatte um Geburtsdiagnostik und Gentechnik wird von erbkranken Kindern gesprochen. Selbst Eltern mit alternativer Mentalität lassen sich auf mögliche Behinderungen ihres Nachwuchses untersuchen.
In der Tat hat dieser Begriff aus der Nazizeit bis heute Bedeutung. Aber es gibt keine erbkranken Kinder. Die meisten Behinderungen entstehen während der Schwangerschaft, bei oder nach der Geburt. Trotz dieser Tatsache lebt hier die Diskussion über „lebensunwertes Leben“ und dessen Verhinderung fort.
Sie sprechen von der Gegenwart. Genforschung, also eine Richtung der Eugenik, wird in Deutschland zur Standortfrage gemacht.
Der Gedanke, schöne, neue Menschen zu züchten und „Defizite“ zu eliminieren, ist wirklich aktuell und entspricht einem modernen Leitbild. Die Fortschritte der Medizin, glauben Genforscher, machen es zukünftig möglich, nur diese Menschen zu schaffen. Doch man vergißt, daß Menschen gerade an leidvollen, schmerzhaften Erfahrungen reifen. Ein Beethoven, der taub und depressiv war, würde nach diesen Kriterien aus dem „Erbgang“ ausgemerzt.
Wenn man Ihre These zu Ende denkt, wäre die heutige Genforschung eine Fortsetzung eugenischer Politik der Nationalsozialisten mit anderen Mitteln...
So empfinde ich es wirklich. Die Berufsbezeichnung des Anthropologen wurde auch erst nach 1945 in Humangenetiker umgewandelt. Der Drang, an menschlichem Erbgut zu forschen und zu manipulieren, war das, was Josef Mengele, der ja Genetiker war, in Auschwitz praktizierte. Der Großteil der Täter waren keine Nazis. Sie haben die Versuche praktiziert, weil ihnen erstmals unbegrenzt Menschen zur freien Verfügung standen. Menschen wurden wie Meerschweinchen verbraucht. Die Freiheit der Forschung wurde hier radikal umgesetzt.
Der Zweck heiligt die Mittel, haben manche Täter als Entschuldigung angeführt.
Aber sie waren selbst in ihrem Sinne nicht erfolgreich. Denn trotz ihrer Menschenversuche konnten sie keinen Impfstoff gegen Hepatitis entwickeln. Nahezu alle Experimente scheinen nur den Forscherdrang befriedigt zu haben. Dabei ist es egal, ob eine völlig sinnlose, aber todbringende Doktorarbeit über die Behandlung von Tuberkulose durch Inhalation von Kohlenstaub, also Ofenruß, in Freiburg 1943 mit „sehr gut“ benotet wurde. Oder Himmler seine Heilmittel an schmerzverkrümmten polnischen Priestern im KZ Dachau testen ließ. So menschenverachtend diese Versuche waren
...in Dachau wurde, seitens der Luftwaffe, sehr zielgerichtet geforscht...
...wir wissen ja seit langem etwa von den Unterdruckversuchen und ähnlichem. Die Luftwaffenmediziner wurden in die USA ausgeflogen. Als Beispiel sei Professor Strughold genannt, oberster Luftfahrtmediziner der NS-Zeit und später in der US- Weltraumforschung.
Ist denn die Freiheit der Forschung überhaupt kontrollierbar?
Ich glaube, daß der Forscherwille sich im Grunde Zustände ohne irgendwelche Beschränkungen zurückwünscht. Noch wird er gebremst. Denn wenn man mal von den SS-Spinnern absieht, dann haben sich dort damals auf Karriere angelegte Wissenschaftler betätigt.
Die nicht mehr tätig sind.
Aber ihre Mentalität ist nicht ausgestorben. Meines Wissens kommt die Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus während der Medizinerausbildung kaum oder gar nicht vor. Statt dessen werden angehende Ärzte in ihrer Ausbildung desensibilisiert. Kürzlich hörte ich von einem Studenten, der sich weigerte, einen Frosch zu töten. Er wurde dafür lächerlich gemacht. Das ist für mich nur ein Anzeichen, beunruhigt zu bleiben.
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