Ernest Green, einer der „Little Rock Nine“

■ Als einer der ersten Schwarzen wechselte der damals 16jährige an eine Schule für Weiße

Washington (taz) – Es könnte ein ganz gewöhnliches Foto für das Familienalbum sein. Ein sechzehnjähriger Junge mit strahlendem Gesicht, umringt von jüngeren Freunden, die ihm offenbar aufmerksam lauschen, wie er aus einem Schulbuch vorliest. Die Aufnahme stammt vom 25. September 1957, Ernest Greens erstem Tag an seiner neuen Oberschule. Nichts an seinem Gesichtsausdruck verrät, daß ihn Soldaten an diesem Tag vor einem Mob schützen mußten, der ihn mit den Worten „Nigger, wir lynchen dich“ empfangen hatte.

Wenn Green heute von diesem Spießrutenlauf an der Central High School erzählt, dann ist keinerlei Empörung und Verbitterung in seiner Stimme zu hören – eher Genugtuung, daß er vor 37 Jahren in dieser Stadt unauslöschbare Spuren hinterlassen hat. Ernest Green war der erste schwarze Schüler, der an einer bis dahin nur von weißen Kindern besuchten Schule in Little Rock, Arkansas, sein Abitur gemacht hat.

Green hätte den bequemeren Weg wählen und an der für Schwarze vorgesehenen Horace Mann High School bleiben können. Dort waren seine Freunde, dort spielte er Saxophon in der Schulband, dort wollte ihn niemand die Treppe hinunterwerfen oder verprügeln. Aber Risiken zu scheuen war keine Eigenschaft, die im Hause Green gepflegt wurde. Ernests Großvater hatte Jahrzehnte zuvor in Arkansas schon für sein Wahlrecht gekämpft; seine Mutter, selbst Lehrerin, hatte Schlagzeilen gemacht, als sie gegen die ungleiche Bezahlung von schwarzen und weißen LehrerInnen protestierte. Als sich am 17. Mai 1954 in Little Rock die Nachricht von der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wie ein Lauffeuer verbreitete, da war der gerade 13 Jahre alte Ernest überzeugt, daß er als einer der ersten Schwarzen einen Fuß über die Türschwelle einer Schule für Weiße setzen würde.

Vielleicht wäre dieser Vorgang „nur“ von den üblichen Haßtiraden weißer RassistInnen, von einigen Drohbriefen des Ku-Klux- Klan und ein paar ruppigen Auseinandersetzungen mit den neuen MitschülerInnen begleitet gewesen. Doch in Arkansas meinte Gouverneur Orval Eugene Faubus, Mitglied der Demokratischen Partei, seine Wiederwahl nur sichern zu können, indem er sich als ausgemachter Segregationist profilierte. „Auf den Straßen wird Blut fließen“, verkündete er kurz vor Beginn des Schuljahres, sollten die neun schwarzen Jugendlichen tatsächlich versuchen, die Central High School zu betreten. Deshalb, so Faubus, werde die Nationalgarde dies verhindern – im „Interesse“ der Schwarzen. Als am 4. September 1957 das Schuljahr begann, standen die Soldaten der Nationalgarde mit Bajonetten im Anschlag am Schultor. 2.000 weiße SchülerInnen durften passieren, die neun Schwarzen mußten umkehren. Diese Szenen machten Schlagzeilen über die USA hinaus. Little Rock war plötzlich zum Synonym für das Apartheid-System des US-amerikanischen Südens, die „Little Rock Nine“ zu HeldInnen der Bürgerrechtsbewegung geworden.

Es dauerte drei Wochen, bis die Bundesregierung auf die Mißachtung einer verfassungsrechtlichen Entscheidung reagierte. Präsident Eisenhower schickte 1.000 Soldaten der 101st Airborne Division nach Arkansas. „Jedem von uns“, erzählt Green, „wurde ein Soldat als Leibwache beigestellt. Der wartete vor dem Klassenzimmer, bis die Stunde vorbei war, um uns in den nächsten Unterrichtsraum zu eskortieren.“ Zwei Monate später hielt die US-Regierung die Krise für beendet, zog die Truppen wieder ab und überließ die Neun ihrem Schicksal. Weiße SchülerInnen bewarfen sie mit Essensresten, verprügelten sie, beschimpften sie als „Nigger“.

Am 29. Mai 1958 nahm Ernest Green als einziger Schwarzer unter über 600 Weißen in der Aula der Schule sein Abschlußzeugnis entgegen. Als sein Name aufgerufen wurde, verfielen alle, die vorher ihren Söhnen, Töchtern oder MitschülerInnen zugejubelt hatten, in eisiges Schweigen. Nur fünf Anwesende applaudierten: Greens Tante, seine Mutter, sein Bruder, sein Großvater – und ein 28jähriger Pfarrer, der zwei Jahre zuvor in Montgomery, Alabama, als Initiator eines Busboykotts Schlagzeilen gemacht hatte. Martin Luther King hielt sich zufällig in Arkansas auf und wollte sich diese Abiturfeier nicht entgehen lassen.

Ernest Green ist heute ein angesehener Bürger in Little Rock und einflußreiches Mitglied eben jener Demokratischen Partei, deren Gouverneur vor fast vierzig Jahren die Nationalgarde gegen ihn einsetzte. Heute besteht die Schülerschaft an seiner früheren Schule je zur Hälfte aus Schwarzen und Weißen. Green weiß, daß Segregation an vielen Orten immer noch oder wieder existiert, daß die Bildungschancen für Schwarze immer noch schlechter sind als für Weiße, daß Rassismus weder auf staatlicher noch auf ökonomischer und gesellschaftlicher Ebene durch ein paar Gerichtsentscheidungen beizukommen ist. Aber er verwahrt sich gegen Resignation und Pessimismus. „Wenn ich sehe, mit welcher Selbstverständlichkeit sich meine fünfjährige Tochter in ihrer Umgebung bewegt, dann weiß ich, was dieser Kampf wert war.“ Andrea Böhm