Ermittlungen in Frankreich: Heikles Thema Antisemitismus
Erst sah es wie ein Unfall aus. Jetzt beschäftigt der womöglich antisemitische Hintergrund eines Todesfalls Frankreichs Präsidentschaftswahlkampf.
Was genau ist am 17. Februar im Pariser Vorort Bobigny geschehen? Die Polizei sprach zunächst von einem Verkehrsunfall: Der 31-jährige Jérémy Cohen wurde beim Überqueren des Boulevards von der Straßenbahn überfahren, er starb wenig später an den Verletzungen. Die Behörden hielten weitere Ermittlungen darum nicht für notwendig.
Erst zwei Wochen später wurden Zweifel an dieser Version laut, denn neben dem Verunfallten war eine Kippa gefunden worden, die er laut seiner Familie als Jude zu tragen pflegte. Sein Vater suchte mit kleinen Plakaten und Handzetteln nach Augenzeugen. Und er bekam daraufhin Videoaufnahmen, die ein Passant mit seinem Handy aufgenommen hatte.
Darauf ist zu sehen, wie Cohen von einer Gruppe von mehr als einem Dutzend Menschen vor einem Hauseingang gestoppt und von mindestens einem Mann geschlagen wird. Vorerst gelingt es ihm, den Aggressoren zu entkommen, doch auf seiner Flucht wird er von der Straßenbahn gerammt. Das widerspricht der Version eines „banalen“ Unfalls und lässt, wie die Familie des Opfers denkt, außerdem den Verdacht zu, dass die Behörden den Fall rasch zu den Akten legen wollten, weil sie etwas zu „vertuschen“ hätten: nämlich ein mutmaßliches Verbrechen aus antisemitischen Motiven.
Alle Kandidaten haben plötzlich etwas zu sagen
Damit aber wollte sich der Vater des Opfers nicht abfinden, er kontaktierte den Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour, wohl in der Meinung, dass dieser als Jude sich am ehesten in der Öffentlichkeit einsetzen würde. Es war aber zuerst der Rundfunksender Radio Shalom, der unter Hinweis auf das zirkulierende Video die Unfallthese in Zweifel zog und eine Untersuchung verlangte.
Von einem „betäubendem Stillschweigen“ der Behörden sprach dann auf Twitter Zemmour, der in der jüdischen Gemeinschaft wegen seines Versuchs, den französischen Hitler-Komplizen Marschall Pétain zu rehabilitieren, mehr als umstritten ist. Er bezichtigte den Staat, die Affäre unter den Tisch kehren zu wollen, und sprach von einer „Omertà“ (Gesetz des Schweigens) in den Medien.
Der amtierende Staatspräsident Emmanuel Macron kontaktierte ebenfalls die Familie des Opfers und versicherte, es werde alles getan, um den Vorfall aufzuklären und gegebenenfalls die Täterschaft zu bestrafen.
Wie die Konservative Valérie Pécresse, die einen „niederträchtigen Lynchmord mit eventuell antisemitischem Charakter“ erwähnte, wollten auch die anderen Kandidaten von links bis rechts nicht abseits bleiben. Die Rechtsextremistin Marine Le Pen argwöhnt: „Die wahre Frage ist doch, ob sich hinter der Vertuschung der Fakten nicht eine (politische) Instrumentalisierung verbirgt.“ Denn sie meint, dass die Behörden kein Interesse gehabt hätten, kurz vor den Wahlen über Antisemitismus in den Vorstadtquartieren zu diskutieren.
Keine voreiligen Schlüsse zieht der Anwalt der Familie Cohen, Franck Serfati, zur Frage, ob es sich um ein Verbrechen aus antisemitischen Motiven handle: „Momentan gibt es keine stichhaltigen Beweise dafür. Es wäre falsch und unnötig, etwas anderes zu behaupten. Es gibt indes Fakten. Eine Kippa wurde gefunden und von der Polizei der Familie zurückerstattet. Ob (Jérémy Cohen) mit der Kippa unterwegs war, wissen wir nicht mit Sicherheit.“ Die Justizbehörden haben jetzt ein Ermittlungsverfahren wegen kollektiver Gewalt und fahrlässiger Tötung eingeleitet.
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