Erinnerungen eines Wahlhelfers 2005: Bleistifte jetzt anspitzen

Die erste Wählerin kreuzte 7 Uhr 59 auf, da wurden noch die Tische im Wahlbezirk zurecht gerückt. Erinnerungen eines Wahlhelfers zur Wahl 2005.

Ein Wahlhelfer trägt zwei Wahlurnen aus Karton, die ihn selbst überragen

Wahlhelfer trägt eine Wahlurne mit Briefwahlunterlagen zum Auszählen, 2017 Foto: Michael Schick/imago

Man könnte ziemlich leicht manipulieren, es zumindest versuchen. Zum Beispiel an die Bekannte, die garantiert links wählt, zwei Wahlzettel ausgeben. Oder abends bei der Auszählung missliebige Stimmen für ungültig erklären, wenn das Kreuz nur ein bisschen über den Kreisrand gemalt ist. Oder umgekehrt ungültige Stimmen als gültige zählen. Dabei müssten sich alle im Wahlvorstand aber einig sein.

Bundestagswahl 2005, Schröder gegen Merkel, ich war Wahlhelfer, zum ersten und bislang einzigen Mal. Genauer: Ich war Beisitzer im Wahlvorstand des Wahlbezirks 422, Wahlkreis Göttingen. 743 Wahlberechtigte. Bürgerliches Viertel. Jeweils vier Leute bestritten die Früh- und die Spätschicht. Um sieben Uhr sollten wir da sein. Tische zurecht rücken, Stühle hin und her schleppen, die Plastikurne versiegeln und aufstellen, die Bleistifte anspitzen, das Wählerverzeichnis und die Wahlzettel auslegen.

Die erste Wählerin kam eine Minute zu früh. Sie musste noch den Zug nach Kassel erreichen. Vorschrift ist Vorschrift, sagte der Wahlvorsteher, gewählt wird erst ab acht. Er hatte seine Uhr am Vorabend “auf die Sekunde genau“ nach dem Fernseher gestellt. Um zwei nach acht hastete die Frau aus dem Gebäude. Nach ihr kamen in der ersten Stunde nur ein paar Rentner und ein junger Mann, der offenbar auf dem Kneipenrückweg Halt machte. Viel Zeit also, in den “Rechtsgrundlagen für die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag“ zu blättern. Und Ratespiele mit Kollegen zu machen: Warum stehen die Parteien in genau dieser Reihenfolge auf dem Wahlzettel? Was passiert, wenn ein Kandidat am Wahltag stirbt?

Was wohl die ältere Dame in der rechten Kabine wählt? Der Freak in Lederjacke bestimmt Die Linke.PDS, oder? Ein anderer verkündete lauthals, dass er Schröder gewählt hatte. Seit 1990, als das auch in Göttingen noch exotisch war, hatte er regelmäßig für die PDS gestimmt. Dieses Mal bekam die linke Kandidatin seine Erststimme, das zweite Kreuz hatte er aber bei der SPD gemacht. Merkel, sagte er, das halte er einfach nicht aus.

Wen wählen eigentlich die Leute, die für die taz arbeiten? In unserer Serie berichten Au­to­r:in­nen und Redakteure über ihre ganz persönlichen Überlegungen zur Bundestagswahl am 26. September.

Die anderen im Wahlvorstand waren alte Hasen und hatten schon so einiges erlebt. Von oben bis unten beschmierte Wahlzettel. Schwächeanfälle in der Wahlkabine. Wähler, die Kuchen für Wahlhelfer mitbrachten. Wahlvorsteher, die Kekse für Wähler backten.

In seiner Schulklasse, der 9. Klasse einer Sonderschule, hatte mein Freund W. bereits im Unterricht auf Kopien des Originalwahlzettels wählen lassen. Vier von 15 Schülern hatten für die SPD gestimmt, vier für die Tierschutzpartei. Ein Schüler hatte zuvor im Fernsehen gesehen, wie Mäusen zu Forschungszwecken riesige Ohren angenäht wurden. Die NPD bekam zwei Stimmen, einer aus der Klasse, Muslim und Kosovo-Albaner, machte sein Kreuz bei der Partei Bibeltreuer Christen.

Um halb eins hatten wir 50 Prozent Wahlbeteiligung geschafft, die fast 30 Prozent Briefwähler mitgezählt. Das sollte die zweite Schicht, die zur Ablösung kam, uns erst mal nachmachen. Punkt 18 Uhr trafen sich dann alle wieder. Zum Zählen. Manipuliert wird nicht.

taz.de/bundestagswahl

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