: Erinnerung und Erscheinung
■ Nora Hoppes metaphorisches Drama „The Crossing“ im Zeise
Mühe macht sein Leben aus. Das Anzünden eines Streichholzes dauert mit zitternden Händen eine halbe Ewigkeit, aber erst die selbstgedrehte Zigarette lindert morgens den Husten. In einer schäbigen Stadt, in einer heruntergekommenen Pension lebt ein alter Mann: BÛbak (gespielt vom gelegentlich als Richard Burton des vorrevolutionären Iran bezeichneten Behrouz Vossoughi, selbst Exilant) kam vor 20 Jahren nach Brüssel, Afghanistan hatte er verlassen müssen. Jetzt hat er seine Arbeit verloren, sein Ersuchen um staatliche Unterstützung scheitert – nur wenig kafkaesk – immer wieder wegen fehlender Papiere: Die Geburtsurkunde, nach der er gefragt wird, kann BÛbak einfach nicht vorweisen.
Als ein Fremder in der Pension absteigt, beginnt sich BÛbaks Geschichte herauszukristallisieren, gerät die Handlung in Bewegung. SÛrbÛn (Johann Leysen) kommt ebenfalls aus Afghanistan, wie er sagt. Auf der Suche nach Verwandten bittet er den (vermeintlich) ortskundigeren BÛbak um Hilfe: Eine Straße, nach der er sucht, ist in keinem Stadtplan verzeichnet, auch BÛbak behauptet, sie nicht zu kennen. Regisseurin Hoppe sagt im Interview, die Figur BÛbaks vereine drei Ebenen des Exils: Eine Heimat verlassen haben zu müssen, in der neuen nie wirklich angekommen zu sein, und überdies „bei sich selbst nicht zu Hause“ zu sein. Dass die Geschichten der beiden Männer mehr miteinander zu tun haben als anfangs angenommen, verdichtet sich zunehmend: In traumartig überzeichneten Passagen wird SÛrbÛns Existenz immer fraglicher. BÛbaks Ringen um die verdrängte Schuld, die er bei seiner Flucht auf sich lud, wäre dann nur scheinbar von außen motiviert, sein Gegenüber SÛrbÛn eine Art komplementärer Doppelgänger, dessen vermeintlich gesuchte Angehörige vielmehr diejenigen, die BÛbak verließ.
The Crossing gelingt es in bemerkenswerter Weise, bei aller metaphorischen Aufladung jegliche Manierismen zu vermeiden; komprimiert in einen einzigen Tag in BÛbaks Leben ist der Film eine originelle Variation über Fragen von Schuld und Verdrängung, Eingeständnis und Verarbeitung.
Alexander Diehl
in Anwesenheit von Nora Hoppe sowie Zaher und Arash Howeida (trad. afghan. Musik): heute, 20 Uhr, Zeise
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