Erinnerung an zu Tode misshandeltes Kind: „Sie hat den Schmerz verborgen“
Benjamin Bayer stellt in Hamburg seinen Spielfilm über Yagmur vor, die im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter getötet wurde.

taz: Herr Bayer, wie kam es dazu, dass Sie einen Film über das Leben von Yagmur gedreht haben, die im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter getötet wurde?
Benjamin Bayer: Es gab eine Ausschreibung der Yagmur-Stiftung für das Erstellen eines Drehbuchkonzepts, das sich dokumentarisch oder fiktionalisiert mit dem Leben und dem Tod von Yagmur auseinandersetzt.
taz: War für Sie die Entscheidung für den fiktionalen Zugang direkt klar?
Bayer: Ich arbeite hauptberuflich an lebensgeschichtlichen Zeitzeugeninterviews und mir wurde klar, dass eine dokumentarische Aufarbeitung schnell an ihre Grenzen stoßen würde.
taz: Inwiefern?
Bayer: Rein formal, weil man da die Persönlichkeitsrechte der beteiligten Menschen wahren muss. Und emotional, weil die Grausamkeit, die in diesem Kinderschicksal enthalten war, ein solches Ausmaß hatte, dass sich die meisten Menschen aus Selbstschutz distanzieren. Mir war klar, dass ich den unbändigen Lebenswillen dieses Mädchens vermitteln wollte.
Erstaufführung des Films „Yaya – ein Leben“ und Würdigung der Arbeit der Yagmur-Gedächtnisstiftung: Mittwoch, 16. 4., 19 Uhr, Festsaal, Hamburger Rathaus
taz: Können Sie das genauer beschreiben?
Bayer: Der zeigt sich in den sehr schmerzhaften Beschreibungen, wie sie den Schmerz der wiederkehrenden Verletzungen durch die Mutter verborgen hat, um am Leben teilzunehmen. Zum Beispiel wurde sie trotz schwerer innerer Verletzungen noch fröhlich auf einer Geburtstagsfeier kurz vor ihrem Tod fotografiert, mit verschmiertem Schokoladenkuchen-Mund.
taz: Sie zeigen das reale Leben Yagmurs und gleichzeitig ein fiktionales, das sie hätte führen können, wenn sie überlebt hätte. Ist das ein Entgegenstemmen gegen das Unrecht dieses Todes, wenn auch nur filmisch?
Bayer: Ja, es ist ein Entgegenstemmen sowohl aus unserer Sicht als Beobachter als auch ein Entgegenstemmen des Kindes, das auf seinem Recht beharrt, unversehrt an Körper und Seele aufwachsen zu können. Sie durchlebt in den Sekunden ihres Todes ein ganzes Leben: Sie findet Freunde, sie geht zur Schule, sie ist bei einer Party.
taz: Warum gibt es so viele Darstellerinnen für Yagmur im Film?
Bayer: Es gibt Auflagen für die Arbeit mit Kindern vor der Kamera, deswegen musste die Rolle mehrfach besetzt werden. Wir hatten immer mehrere Kinder am Set, sodass wir zu jedem Zeitpunkt, wenn eines der Kinder gerade eine Auszeit brauchte, sagen konnten: Pause. Außerdem zeigen wir Yagmur ja vom Baby bis zur 18-Jährigen – unsere jüngste Darstellerin war acht Monate alt und die älteste 22 Jahre.
taz: Wie viel wussten die Kinder jeweils über die Geschichte der echten Yagmur?
Bayer: Wir hatten für die verschiedenen Kinder je nach Alter eine kindgerechte Erklärung. Gerade für die Darstellerinnen in Szenen, in denen zur Darstellung von Gewalt kommt, gab es die Lesart: Das ist Spektakel, das ist ein Spiel. Wir haben, das mag sich skurril anhören, oft gelacht. Das Filmblut, das im Haar klebt, riecht zum Beispiel nach Himbeere und wir haben daraus ein Fingerfarbenspiel gemacht.
taz: Bei der Erstaufführung des Films wird auch eine Cousine von Yagmur dabei sein. Haben Sie sich für den Film mit Yagmurs Umfeld ausgetauscht?
Bayer: Nein. Ich habe mich mit den öffentlich verfügbaren Informationen, etwa den Gerichtsakten, auseinandergesetzt. Natürlich gibt es genauso erzählwürdige Schicksale von Menschen in Yagmurs Umfeld und die Frage: Haben die Behörden ihre Pflicht erfüllt? Dazu äußern wir uns im Film nicht. Mich haben das Schicksal dieses Kindes und vor allem seine Empfindungen interessiert.
taz: Haben Sie ein Fazit?
Bayer: Diese unglaubliche Lebensfreude war etwas Positives in der dunklen Welt, in der sie lebte. Man kann viel besser für etwas Schützenswertes kämpfen, wenn man diesen positiven Sinn spüren kann. Ich hoffe, es ist gelungen, im Film den Hinweis zu geben, dass wir täglich mit sehr dunklen Welten in Kontakt kommen und es uns dann überlassen ist, Zivilcourage zu zeigen. Dass wir gerade in dieser Zeit, in der alle panisch um ihre Ressourcen kreisen, das aufeinander Achtgeben mehr ins Auge fassen.
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