Erinnerung am Neuengamme: „Der Ort blieb ein Stigma“

Gesa Trojan ist mit dem Schweigen über das nahe KZ Neuengamme aufgewachsen. Nun hat sie Zeitzeugen und deren Kinder befragt. Ihnen gemeinsam ist ein diffuses Unbehagen.

Diffuses Bild: Die Zeitzeugen, die Gesa Trojan sprach, erinnern sich an Menschen, die wenig zu essen bekamen und gekleidet waren. Bild: dpa

taz: Frau Trojan, haben sich die Neuengammer gefreut, als Sie sie über ihre Erinnerungen ans Konzentrationslager befragen wollten?

Gesa Anne Trojan: Ich habe mich ja nicht auf den Marktplatz gestellt und verkündet, dass ich ein Buch über lokale Erinnerung an das KZ Neuengamme schreiben will. Ich habe meine Interviewpartner eher nach dem Schneeballsystem gesammelt.

Wie geht das?

Angefangen habe ich bei meinen Großmüttern. Sie fanden das Projekt – meine Magisterarbeit – gut und nannten mir Namen von Bekannten und Freunden. Als ich denen mein Anliegen recht professionell vorstellte, sagten sie nur: „Oh ja, Gesa, hab ich schon gehört von deiner Oma! Natürlich helf’ ich dir für die Schule!“ Danach habe ich das mit der professionellen Schiene gelassen und gemerkt: Der einzige Grund, warum ich an die Quellen komme, ist der persönliche Bezug.

Hat auch geholfen, dass der Nationalsozialismus jetzt fast drei Generationen zurückliegt?

Das auch. Es war für mich sicher leichter als für diejenigen, die vor 20, 30 Jahren gefragt haben. Denn die Neuengammer, die ich sprach, waren in der NS-Zeit so jung, dass sie keine Schuld auf sich laden konnten. Außerdem leben keine Nachbarn oder Freunde mehr, die sie hätten belasten können.

Wen haben Sie befragt?

Zwei Generationen: NS-Zeitzeugen, einige ihrer Kinder und andere in den 1950er- und 1960er-Jahren geborene Neuengammer.

29, wuchs in Neuengamme auf, wo sie bis zu ihrem 20. Lebensjahr lebte. Ihr Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg schloss sie mit der Magisterarbeit "Das Lager im Dorf lassen - Das KZ Neuengamme in der lokalen Erinnerung" ab, die 2014 als Buch im Dölling und Galitz Verlag erschien.

Inzwischen lebt sie in Berlin und ist freie Mitarbeiterin der Gedenkstätte "Haus der Wannsee-Konferenz", des Dokumentationszentrums "Topographie des Terrors" sowie, weiterhin, der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte.

Wie präsent war das Lager zur NS-Zeit für die Neuengammer?

Sehr präsent, es lag ja mitten im Dorf. Die Sphären des KZs und des Dorfs überschnitten sich an vielen Punkten. Und diese Orte waren auch die Anknüpfungspunkte für meine Gesprächspartner.

Was hatten sie gesehen?

Zum einen die Häftlingstransporte. Die Neuankömmlinge mussten anfangs vom nächstgelegenen Bahnhof – Bergedorf oder Curslack – zu Fuß über die Deiche ins Lager gehen. Diese Deiche führten mitten durchs Dorf. Später legten die Häftlinge einen Gleisanschluss zum Lager, gleichfalls vor aller Augen. Außerdem bauten KZ-Häftlinge zwischen 1940 und 1943 die Dove Elbe aus, die durch Neuengamme fließt. Es waren also zeitweise über 1.000 Häftlinge gleichzeitig, die auf sechs Kilometern Länge gut sichtbar arbeiteten.

Und das KZ?

Auch das war gut sichtbar, weil es nah an Wohnhäusern und Betrieben der Anwohner lag. Außerdem war die Lagerstraße eine zentrale Verbindungsstraße zwischen zwei Ortsteilen. Die Anwohner konnten sie mit Passierschein benutzen.

Konnten sie ins Lager schauen?

Ein wenig, denn es gab keine Mauer, sondern Stacheldrahtzäune, durch die man Teile der Arbeitsstätten sah.

Wie sichtbar waren die KZ-Bewacher – die SS-Leute – im Dorf?

Sehr sichtbar, denn sie beaufsichtigten die Arbeiten der Häftlinge im öffentlichen Raum. Einige SS-Männer wohnten im Dorf und sind sicher auch in die Kneipe gegangen. Davon haben meine Gesprächspartner aber fast nichts erzählt. Sie waren damals wohl zu jung für die Kneipe.

Wie haben Ihre Zeitzeugen die Häftlinge beschrieben?

Als Menschen, die wenig zu essen bekamen und unzulängliche Kleidung hatten. Viele haben Mitleid geäußert. Und recht viele haben die Häftlinge „Zebras“ genannt – was sich zunächst auf die gestreiften Häftlingsanzüge bezog. Aber das hat auch eine unterschwellige Bedeutung, weil sie damit etwas Fremdes beschrieben, das normalerweise nicht in die eigene Lebenswelt gehörte.

Der Begriff „Zebra“ schafft Distanz.

Ja, er erlaubt einen sprachlichen Sicherheitsabstand: Was man da sieht, hat einen harmlosen Tiernamen, man spricht aber weder über Menschen noch über Individuen. Diese Distanz ergab in der damaligen kindlichen Wahrnehmung durchaus Sinn. Es gibt das Innen, das stabil gehalten werden sollte, in Abgrenzung zu einem Außen, das quasi nicht dazu gehört.

Ein Zebra gilt als dem Menschen unterlegen.

Ja – wobei die Kinder das sicher nicht bedacht haben. Aber natürlich war es eine Strategie der NS-Ideologie und der SS-Männer vor Ort, die Häftlinge zu kriminalisieren, zu entmenschlichen und zu ent-individualisieren.

Und wie war der Sprachduktus dieser Beschreibungen?

Die Zeitzeugen haben die Häftlinge in einer merkwürdig floskelhaften Sprache beschrieben. Diese Political Correctness spielte in den Gesprächen eine große Rolle – gerade weil meine Interviewpartner nicht genau wussten, wie sie funktioniert. Viele brachen plötzlich ab, wenn sie über das KZ und die Häftlinge sprachen. Erst dachte ich, sie wollten nicht reden. Dann habe ich gemerkt: Sie können nicht. Sie wissen nicht, in welchen Worten sie darüber sprechen dürfen.

Und wie haben die Menschen von der anderen Lebenssphäre – ihrer „normalen“ Kindheit – gesprochen?

Unbefangen. Interessant war, dass sie mit dem gleichen Ort widersprüchliche Erinnerungen verbanden. Eine Dame sagte, dass sie das, was sie an der Dove Elbe sah, schrecklich fand, dass sie Gewalt gesehen hat. Später sprach sie über den gleichen Ort und erzählte, wie schön es gewesen sei, dort zu baden und Schlittschuh zu laufen.

Haben die Zeitzeugen das auch ihren Kindern erzählt?

Nein, die meisten Geschichten fanden sich bei den Jüngeren nicht wieder. Das war auch der Punkt, an dem ich dachte, mein Projekt sei gescheitert. Denn ich wollte ja die Weitergabe der Erinnerung von einer Generation zur nächsten ergründen. Dann habe ich aber bemerkt, dass Erinnerung an das KZ sehr wohl tradiert wurde – und zwar in der Art, wie man sich zu dem Ort verhielt. Er ist mit einem Unbehagen besetzt und wird gemieden. Die Jüngeren haben durchweg gesagt: „Das ist der Weg am KZ längs, und den fährt man nicht.“ Warum, blieb vage.

Ist das KZ inzwischen Bestandteil der Neuengammer Dorfgeschichte?

Weder das KZ noch die Geschichte dieses Ortes wurden je in die Dorfgeschichte integriert. Das lag auch an der Art, wie die Stadt Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ort umging. Da dort 1950 ein – bis 2006 bestehendes – Gefängnis gebaut wurde, blieb der Ort unzugänglich und ein topografisches Stigma.

Aber 2003 wurde das ehemalige KZ zur Gedenkstätte. Da hätte sich das ja ändern können.

Die Gedenkstätte wurde schon wahrgenommen und von einigen Anwohnern besucht, aber sie blieb ein Außen. Ein Neuengammer hat mal gesagt, das war wie ein internationales Ufo, das da gelandet ist – zumal der Impuls für die Gedenkstätte nicht aus Neuengamme oder Hamburg kam, sondern von ehemaligen Häftlingen aus aller Welt.

Sie sind in Neuengamme aufgewachsen. Wie präsent war das Lager in Ihrer Kindheit?

Gar nicht. Ich wusste, dass es das KZ gab, weil es als Ortsangabe existierte. Aber für mich war das Gefängnis mit seinen riesigen Wachtürmen viel präsenter.

Wurde in Ihrer Familie über das KZ gesprochen?

Nein. Es war nie Thema, und deshalb ist auch keiner auf die Idee gekommen zu fragen. Es gab keine Abwehrhaltung, die einen hätte stutzig machen können – aber es gab auch kein Sprechen darüber. Es war einfach nicht da.

War es in der Schule ein Thema?

Nein, weder in der Grundschule noch auf dem Gymnasium. Ich bin erst in den 1990er-Jahren im Konfirmandenunterricht dort gewesen, weil das KZ für die Neuengammer Kirchengemeinde immer ein Thema war. Da habe ich den Ort erstmals bewusst als Gedenkstätte wahrgenommen.

Ihr Interesse war also nie ein heimatgeschichtliches?

Nein. Ich bin über geschichtswissenschaftliche Seminare der Uni auf das Thema gekommen. Erst später kam der persönliche Bezug dazu, als mir klar wurde: Stimmt, das KZ kam auch in meinem Aufwachsen nicht vor.

Ist es Ihnen peinlich, dass Sie aus Neuengamme stammen?

Nein. Die Neuengammer, mit denen ich gesprochen habe – einschließlich meiner selbst –, haben keinen engeren Bezug zu diesem Ort als jemand, der von woanders kommt.

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