Erica ZingherGrauzone: Chanukkas Lichter und der Glaube an den Menschen
Vor ein paar Wochen hatte ich eine merkwürdige Begegnung. Am Fahrstuhl in der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße in Berlin sprach mich eine ältere, zierliche Frau an, als wären wir alte Bekannte. „Sie sprechen Russisch?“, versicherte sie sich bei mir und fuhr gleich fort, ohne meine Antwort abzuwarten.
Sie fragte, woher ich denn käme. „Aha, Moldau, Transnistrien, verstehe“, sagte sie, ob mir denn Berlin, ob mir Deutschland gefalle? Ich sagte, „ja, schon“, und war just in dem Moment nicht sicher. Alles besser als Transnistrien, zwinkerte sie mir zu. Und da hatte sie natürlich recht.
Wir stiegen in den Fahrstuhl und ich fragte, in welchem Stockwerk sie aussteigen müsse. „Zweites“, sagte sie, „Sozialabteilung“. Ich nickte wissend. Viele ältere Juden leben in Deutschland in Armut und gehören mit ihren Bedarfen in den Sozialabteilungen der Gemeinden quasi zum Inventar. Kurz bevor die Frau dann ausstieg, sagte sie noch, dass es schon immer schwer gewesen sei für sie in Deutschland nach ihrer Einwanderung, aber seit einem Jahr, sagte sie noch, seit einem Jahr sei es ja alles noch viel schwieriger. Wir blickten uns an, ich verstand, und bevor ich etwas erwidern konnte, war sie auch schon aus dem Fahrstuhl verschwunden.
Ich habe lange über diese Begegnung nachgedacht. Meine Generation, ich, sollte es mal besser haben in Deutschland. In Frieden und Wohlstand leben können. Ich würde sagen, dieser Wunsch hat sich erfüllt. Und doch hat sich, wie die Frau aus dem Fahrstuhl anmerkte, in diesem Jahr eine Schwere über die jüdische Gemeinschaft gelegt.
Für das jüdische Leben war 2024 wohl ein Jahr der Rückschritte, der Bedrohung.
Ich habe in diesem Jahr oft einen Groll empfunden, eine Verzweiflung, die mir bis dahin nicht bekannt waren. Der „Verlust von Weltvertrauen“, von der politischen Heimat, eine erlebte Kälte, Radikalisierung, Empathielosigkeit, sind so tiefgreifend – und bis heute für mich nicht ganz zu fassen.
Und dann ist da noch die andere Seite: Dinge, die einen vor einem Jahr tierisch aufgeregt haben, jucken einen heute nicht mehr, die nimmt man plötzlich achselzuckend zur Kenntnis, so ungefähr sagte das die Schriftstellerin Dana von Suffrin vor einer Weile bei einer Lesung.
Ich musste daran denken, als ich in dieser Woche las, dass auf einem „antikolonialen Friedens-Weihnachtsmarkt“ einer Darmstädter Kirchengemeinde antisemitisches Material und Hamas-Kennzeichen verkauft wurden. Rote Dreiecke, Palästinakarten ohne Israel, solche Dinge.
Erica Zingher ist Journalistin und arbeitet als Referentin bei democ.
Hier erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Geraschel“ von Doris Akrap
Die Jüdische Gemeinde hat Strafanzeige erstattet. Verständlich. Mich hat dieses Debakel allerdings eher belustigt: Die Vorstellung, wie sich Besucher des Weihnachtsmarktes mit einem Tässchen Glühwein in der Hand interessiert Schlüsselanhänger mit Hamas-Dreiecken und Lebkuchen mit der Aufschrift „Never again for everyone“ angesehen haben, ist so absurd, dass ich nur darüber lachen kann.
Vor einigen Monaten hätte mich dieser Antisemitismus noch aufgeregt. Aber heute? Wahrscheinlich stumpft man nach einem Jahr wie diesem eben ab.
Ich resümiere: Die Dinge gehen genauso weiter wie bisher. Was gestern unerträglich war, ist auch morgen noch unerträglich.
Bald beginnt das jüdische Lichterfest Channuka, ein Fest der Wunder. Das Licht, das entzündet wird, erinnert an die Hoffnung in dunklen Zeiten. Ich bin nicht religiös, ich glaube nicht an Wunder. Aber an den Menschen, an den glaube ich. An seine Widerständigkeit, seine Kraft, weiterzumachen. Ich glaube daran, dass nichts von Dauer ist. Dass das Unerträgliche vielleicht unerträglich bleibt und wir es in Anekdoten verarbeiten, die wir uns erzählen, die uns zum Lachen bringen. Gibt es einen besseren Trost?
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