Erica Zingher Grauzone: Abschalten kann nur, wer nicht ständig gemeint ist
Wenn man die Augen zusammenkniff, sich die Ohren zuhielt, war Thessaloniki eine schöne Stadt. Diese gezwängte Betonhölle, in der zwischen schmucklosen Fassaden plötzlich Jugendstil, osmanische Baukunst und unzählige orthodoxe Kirchen aufblitzten. Lärmende Autos bretterten über mehrspurige Straßen, die Luft schmeckte nach Abgasen und Meer. Parks gab es kaum, dafür die Ägäis am Rand.
Es war naiv von mir zu glauben, ich könnte hier vor der Welt davonlaufen – wenigstens für einen Atemzug. Denn schon an der nächsten Straßenecke las ich: „Naziisrael“ in schwarzer Schrift, „Free Palestine“-Graffitis, BDS-Sticker an Ampelmasten, Plakate linksradikaler Gruppen, die zwar die Toten in Gaza betrauern, aber die Täter des 7. Oktober verschweigen.
Wie immer, wenn ich an einem unbekannten Ort bin, besuchte ich das jüdische Museum. Thessaloniki war einst „Mutter Israels“, eine sephardische Metropole, in der Juden zeitweise die Mehrheit stellten. Vor der deutschen Besatzung lebten über 50.000 Juden in der Stadt – die größte jüdische Gemeinschaft Griechenlands. 1943 wurden sie in Güterwaggons nach Auschwitz, Treblinka und Bergen-Belsen deportiert, fast alle ermordet. Ihre Synagogen, Geschäfte, Wohnungen wurden geplündert oder im Zuge der antisemitischen Praxis „arisiert“. Nach dem Krieg kehrten nur wenige zurück, viele fanden ihre Häuser besetzt vor. Heute leben in Thessaloniki noch rund 1.500 Juden.
Am Eingang des Museums steht heute ein Wachmann, schwere Metalltür, Kameras. Vor dem 7. Oktober mussten jüdische Einrichtungen in vielen Städten außerhalb Deutschlands nicht geschützt werden. In Thessaloniki jetzt schon. Warum hier, wo die Gemeinde so klein und unsichtbar geworden ist? Weil Unsichtbarkeit keinen Schutz bedeutet?
Viele Griechen haben diesen Teil der Stadtgeschichte verdrängt. Hätte das Gegenteil doch bedeutet, die Rolle der Lokalbevölkerung, Kollaboration aufzuarbeiten. Die jüdische Geschichte Thessalonikis ist den meisten unbekannt.
Seit dem 7. Oktober hat antisemitischer Vandalismus massiv zugenommen. Der Zentralrat der Juden in Griechenland spricht von einem „beispiellosen Anstieg“. Friedhöfe wurden geschändet, Mauern mit Drohungen besprüht. An beliebten Urlaubsorten gab es gezielte Proteste gegen israelische Touristen. Sie wurden pauschal als „Kriegsverbrecher“ oder „Zionisten“ verunglimpft, Social-Media-Posts forderten „Intifada bis zum Sieg“.
Hier erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Geraschel“ von Doris Akrap
Besonders bitter wirkt das auf der Insel Zakynthos: Während der Besatzung der Nationalsozialisten retteten Bürgermeister und Bischof alle 275 Juden der Insel, indem sie sich weigerten, eine Namensliste an die Deutschen zu übergeben. Mithilfe der Bevölkerung versteckte man sie in Bergdörfern, alle überlebten. Heute werden Juden ausgerechnet dort von antiisraelischen Demonstranten angefeindet.
Auch in Thessaloniki finden regelmäßig Demonstrationen für Palästina statt, oft mit Plakaten, die keine Kritik am israelischen Vorgehen in Gaza, sondern Feindbilder transportieren. Israelfeindliche Sticker und Slogans sind allgegenwärtig, während andere Bilder – etwa von den israelischen Geiseln – völlig fehlen. Fast zwei Jahre nach dem 7. Oktober tun sich viele Linke noch immer schwer, die Komplexität dieser Tragödie auszuhalten: den Hamas-Terror als Auslöser zu benennen, an die verschleppten Geiseln zu erinnern – und zugleich die katastrophale Lage der Palästinenser in Gaza zu sehen.
Manche Spuren verschwinden, andere sind überpräsent. Die Geschichte der Juden von Thessaloniki sieht man kaum. Stattdessen schaut man auf die Parolen von heute. Zwischen Graffitis, wütenden Plakaten und Wachhäuschen verstand ich: Abschalten kann nur, wer den Luxus hat, nicht ständig gemeint zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen