Ergebnis der Volkszählung in China: Älter, kinderärmer und gebildeter
Mit Verspätung hat China seinen Bevölkerungszensus veröffentlicht. Er offenbart die demografische Zeitbombe des bevölkerungsreichsten Staates.
Unter großem medialen Interesse wurde die Publikation der weltweit aufwändigsten Volksbefragung erwartet. Am Dienstagmorgen schließlich lud die Regierung in Peking zur offiziellen Pressekonferenz. Der Leiter der nationalen Statistikbehörde, Ning Jizhe, zeichnete zunächst ein rosiges Bild: Die Alphabetisierungsrate habe angezogen, der Männerüberschuss sich leicht verringert und die Anzahl an Hochschulabgängern konnte deutlich gesteigert werden.
Die eigentliche Nachricht wurde bei der offiziellen Verlautbarung aber nur am Rande erwähnt: Chinas Bevölkerung wird rasant älter und bekommt immer weniger Kinder. Die demografische Zeitbombe ist längst die größte Bedrohung für den „chinesischen Traum“ von Staatschef Xi Jinping, eine moderat wohlhabende Gesellschaft zu werden.
Ein Blick auf die Kernfakten: Im letzten Jahr wurden nur 12 Millionen Kinder geboren, was den niedrigsten Wert seit der großen Hungersnot 1961 darstellt. Zugleich ist die Alterskohorte von über 65 Jahren deutlich angestiegen: Machte sie 2010 nur 8,9 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus, sind es mittlerweile 13,5 Prozent. Ihr Anteil wird zudem rapide zunehmen: Allein in den nächsten fünf Jahren werden bis zu 300 Millionen das Rentenalter erreichen.
Die 1-Kind-Politik ist vorbei, doch zwei Kinder sind zu teuer
Zwar hat Peking vor etwa fünf Jahren seine restriktive Ein-Kind-Politik gelockert, die massives Leid verursacht und zu einem Männerüberschuss von über 30 Millionen geführt hat. Doch auch wenn chinesische Familien mittlerweile zwei Kinder großziehen dürfen, wollen sie es schlicht nicht mehr. Das größte Hindernis sind die explodierenden Kosten für Wohnraum und Bildung.
Grundsätzlich sind offizielle Daten aus China mit einer gewissen Skepsis einzuordnen: Bereits im April hatte die Financial Times (FT) berichtet, dass die nationale Statistikbehörde erstmals seit über 60 Jahren einen Bevölkerungsrückgang vermelden würde. Nun berichtet die FT abermals unter Berufung auf interne Quellen: Die Zahlen wurden nach oben revidiert. Dies würde auch die mehrwöchige Verschiebung erklären, denn ursprünglich wollte Peking seine Volksbefragungsergebnisse im April veröffentlichen.
Chinesische Behörden haben in der Vergangenheit immer wieder Daten frisiert, um den ausgegebenen Zielen der Zentralregierung zu entsprechen. Selbst der heutige Premierminister Li Keqiang – damals Parteisekretär der Provinz Liaoning – hat laut einem Memorandum des US-Außenministeriums 2007 vermerkt, dass er offiziellen Wirtschaftszahlen der Lokalregierung nicht trauen würde.
Doch trotz Bedenken ist der Trend klar: Die demografische Bedrohung für den Wirtschaftsaufstieg Chinas ist vergleichbar mit der Situation in Europa und den USA: Überalterung, steigende Lohnkosten, sinkende Zahl der Arbeitskräfte. Nur befindet sich die Volksrepublik – trotz konstant anhaltendem Wachstum während der Coronazeit – auf einem ungleich niedrigeren Niveau: Allein um das Pro-Kopf-Einkommen von Spanien zu erreichen, müsste sich Chinas Bruttoinlandsprodukt um den Faktor 2,6 erhöhen.
Kurzfristig dürfte die demografische Transformation noch keine drastischen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben. Denn noch kann sie durch das abgefedert werden, was Chinas Parteikader „Qualität der Bevölkerungsentwicklung“ nennt: Die Anzahl der Universitätsabsolventen hat sich in den letzten zehn Jahren auf 218 Millionen nahezu verdoppelt, ebenso ist die Urbanisierung – die als wichtiger Indikator für Produktivität gilt – im selben Zeitraum auf 902 Millionen Menschen angestiegen.
Mehr Verstädterung, aber erst auf US-Niveau von 1950
Derzeit leben etwa 64 Prozent der Chinesen in Städten. Das entspricht in etwa dem Niveau der USA von 1950 – und macht deutlich, wie viel Potenzial die chinesische Wirtschaft weiterhin hat.
Laut Prognosen wird Indien ab 2023, spätestens 2030, mehr Einwohner haben als China und damit das bevölkerungsreichste Land der Welt sein. Laut der UN zählt Indien derzeit 1,38 Milliarden Menschen, seine Bevölkerung wächst pro Jahr um 0,9 Prozent gegenüber 0,53 in China. Spätestens ab 2030 wird das Schrumpfen der chinesischen Bevölkerung prognostiziert.
Zwar hat Chinas große wirtschaftliche Entwicklung hundert Millionen Menschen aus der Armut geholt. Im Vergleich mit Industrieländern ist Chinas Wohlstand aber bescheiden, vor allem fehlen den Menschen Rücklagen fürs das Alter – sie werden also alt, bevor sie wirklich reich sind.
In Indien hingegen ist die Bevölkerung viel jünger: Das Durchschnittsalter beträgt nur 26,4 Jahre und ist mehr als zehn Jahre niedriger als in China. Damit hat Indien mehr produktives Potenzial. Bei der Urbanisierung, die in Indien erst 34 Prozent beträgt, ist China weit voraus. Indien hat also ein großes Arbeitskräftereservoir für Industrie und Dienstleistungen, wenn die Landwirtschaft reformiert und effizienter wird.
(han)
Doch mittelfristig steht die Staatsführung durch die Überalterung vor ihrer größten Herausforderung der nächsten Jahrzehnte. Peking setzt zwar zunehmend auf künstliche Intelligenz und Automatisierung, um dem demografischen Wandel entgegenzuwirken.
Doch auch in den eigenen Reihen herrscht das Bewusstsein, dass jene offene Wette auf die Zukunft bei Weitem nicht ausreichen wird: „Wir müssen erkennen, dass Bildung und technologischer Fortschritt den Bevölkerungsrückgang nur schwer wird kompensieren können“, heißt es in einem Papier der chinesischen Zentralbank vom März.
Angesichts der zunehmend nationalistischen Staatsführung scheint zugleich ausgeschlossen, dass China seine Migrationspolitik lockert. Derzeit leben knapp 850.000 Ausländer in China, von denen derzeit aber ein erheblicher Teil wegen der Grenzschließungen während der Coronapandemie außer Landes ist. Hochgerechnet auf die Bevölkerung machen ausländische Staatsbürger also weitaus weniger als 0,06 Prozent aus – einer der niedrigsten Werte weltweit.
Auch lassen Pekings Bemühungen für eine höhere Geburtenrate die Unterdrückungspolitik der Uiguren in Xinjiang unter einem noch düstereren Licht erscheinen: Dort brach die Zahl an Neugeborenen 2019 in einigen Landkreisen um über 50 Prozent ein, was mit der systematischen Internierung von hunderttausenden Muslimen in der Region zu tun haben könnte. Die chinesische Botschaft in Washington twitterte zuletzt, uigurische Frauen seien nicht länger „Gebärmaschinen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg