Erfolg der Taliban in Afghanistan: Schleichende Einkreisung der Städte
Die Taliban greifen zeitgleich in mindestens acht Provinzen an und erzielen bei ihrer Offensive immer größere Geländegewinne.
BERLIN taz | Die seit Wochen anhaltende Offensive der Taliban in Afghanistan erlebt zurzeit einen neuen Höhepunkt. Die Aufständischen griffen in den letzten Tagen in 8 von insgesamt 34 Provinzen des Landes Distriktzentren sowie Stützpunkte der bewaffneten Regierungskräfte an.
Am problematischsten sieht die Lage in Helmand im Süden sowie Kundus im Norden aus. In Helmand wird in zwei Distrikten vor den Toren der Provinzhauptstadt Laschkargah gekämpft. Sie waren bisher als einzige in der Provinz noch weitgehend talibanfrei. Die Verbindungsstraße in die Regionalhauptstadt Kandahar in der gleichnamigen Nachbarprovinz ist seit mindestens zwei Wochen unterbrochen – und damit auch der Landweg für Nachschub – sowohl für die Regierungstruppen als auch für die Zivilbevölkerung.
Auch in Kundus wurde am Montag in einem Vorort der gleichnamigen Provinzhauptstadt gekämpft, die schon im Frühherbst 2015 für zwei Wochen den Taliban in die Hände gefallen war. Die Kämpfe dort waren seither nie wirklich abgeflaut. Die Taliban kontrollieren die Zentren von zwei der fünf ländlichen Distrikte und die meisten Gebiete der anderen drei.
Drei weitere Distriktzentren – je eines in Kundus, Tachar und Baghlan – fielen im Verlauf der letzten Woche kurzzeitig an die Aufständischen und mussten von Regierungskräften mühselig zurückerobert werden.
Armee hält nur noch manche Hauptorte
Am Sonntag attackierten die Taliban auch in der Ostprovinz Nangarhar und in der Provinz Logar, gleich südöstlich der Hauptstadt Kabul. Zudem beschossen sie das Polizeihauptquartier von Paktia mit Mörsern. Seit mehreren Tagen wird auch in der Nordprovinz Sarepul gekämpft.
Beunruhigend ist auch, dass aus einigen Provinzen gar keine Berichte kommen. Ähnlich wie in Kundus hält die Regierung dort nur noch einige Hauptorte.
Afghanische Soldaten beschweren sich über ausbleibenden Nachschub
In Kundus fürchteten zahlreiche Einwohner und Mitarbeiter der Verwaltung eine Wiederholung der Vorgänge von September 2015 und flohen zum örtlichen Flughafen, der außerhalb der Stadt liegt und im vorigen Jahr als einziger Teil der Stadt knapp nicht von den Taliban erobert wurde. Dort werden die Regierungstruppen von US-Spezialkräften sowie einer kleinen Gruppe Bundeswehrberater unterstützt. Letztere dürfen aber nicht direkt in die Kämpfe eingreifen.
Kundus war bis 2013 Hauptstationierungsort der Bundeswehr in Afghanistan und liegt weiterhin – wie auch Tachar, Baghlan und Sarepul – im Verantwortungsbereich des von deutschen Offizieren geführten regionalen Hauptquartiers der neuen Nato-Mission „Resolute Support“ in der Stadt Masar-i-Scharif.
Auch wenn den Taliban bisher der große Coup – die Einnahme einer weiteren Provinzhauptstadt – nicht gelungen ist, rücken sie weiter systematisch vor. Wie im Norden Helmands kontrollieren sie nun auch im Drei-Provinzen-Eck von Kundus, Baghlan und Tachar zusammenhängende Gebiete und bedrohen auch dort wichtige Straßenverbindungen.
Die Taliban haben die Initiative
Die Taliban und nicht die Regierungstruppen haben weiter die Initiative, auch wenn Kabul immer wieder große, und wahrscheinlich übertriebene, Verluste der Angreifer meldet. In afghanischen Medien beschweren sich Soldaten immer wieder über ausbleibenden Nachschub und mangelnde Koordination zwischen ihren Vorgesetzten.
Derweil gerät die Zivilbevölkerung immer mehr zwischen die Fronten. In Helmand sind laut der italienischen Hilfsorganisation Emergency, die dort und in Kabul Krankenhäuser betreibt, allein in der zweiten Julihälfte 30.000 Menschen in die Provinzhauptstadt geflohen.
Die Zahl der Binnenvertriebenen liegt inzwischen landesweit bei über 1,2 Millionen, die meisten Menschen flohen vor Kämpfen.
Leser*innenkommentare
Khaled Chaabouté
Ich denke mal, es ist so langsam an der Zeit, die Russen wieder ins Land zu rufen. Mal schauen, ob die Taliban dann auch wieder von der westlichen Wertegemeinschaft zu Freiheitskämpfern umgedichtet und entsprechend unterstützt werden.
A. Müllermilch
"Afghanistan anzugreifen, ist Kriegsverbrechen".
Bin Laden in Afghanistan zu jagen, war schon in Ordnung. An dessen Urheberschaft von 9/11 kann ein ernsthafter Zweifel nicht bestehen.
Allerdings hätte man sich niemals anmaßen dürfen, dieser archaischen Gesellschaft westliche Werte aufdrücken zu wollen.
Aus dem Westen kommt für die Dritte Welt nichts Gutes.
Albrecht Pohlmann
@A. Müllermilch "Bin Laden in Afghanistan zu jagen, war schon in Ordnung. An dessen Urheberschaft von 9/11 kann ein ernsthafter Zweifel nicht bestehen." - Bitte, beweisen Sie es!
Albrecht Pohlmann
Fünfzehn Jahre und 70.000 Tote später ... alles so ähnlich, wie 2001. Was hat es gebracht? Für die Menschen in Afghanistan nichts. Für alle, die am Krieg verdienen, hingegen sehr viel. Es ist der verborgene Sinn eines jeden heutigen Krieges. Auch dessen, den Warlords im Kongo führen: auch die müssen Waffen kaufen. Dafür, sich der Invasion im Irak nicht anzuschließen, ist Schröder immer wieder gelobt worden - aber sein Entschluß, mit den anderen Alliierten zusammen Afghanistan anzugreifen, ist Kriegsverbrechen genug. Es war ein schwerer Fehler oder wenigstens eine ungeheuerliche Dummheit, wegen 9/11 den NATO-Bündnisfall auszurufen bzw. sich dem anzuschließen. Afghanistan war ein zerfallener Staat, die damals (und heute ...) mächtigste Partei, die Taliban, hatten weder die USA, noch Deutschland, noch sonst einen NATO-Staat angegriffen. Somit beteiligte sich Deutschland an einem Angriffskrieg, wie zuvor bereits in Serbien. Auf den Vorwurf der USA, den Urheber von 9/11 zu beherbergen, hatten die Taliban (die kurz zuvor noch mit den USA wegen einer Ölpipeline in Verhandlungen standen) erwidert: Beweist uns, daß er es war, und wir liefern ihn aus. Bekanntlich ist dieser Beweis nie, der Krieg jedoch unverzüglich geführt worden.