piwik no script img

Erfahrung eines „Sextortion“-OpfersBlanke Erpressung

Er flirtete und schickte Nacktbilder. Dann der Schock: Zahle er nicht, würden die Fotos verbreitet. „Sextortion“ nennt sich diese Form der digitalen Gewalt.

Sextortion kommt häufiger vor als vermutet Foto: imago/Montage taz

Eigentlich wollte Jamal Burger nach seiner Trennung mal wieder Nähe erleben. „Ich war einsam und habe mich nach Zuneigung gesehnt“, erzählt der 29-Jährige. Also wischte er sich durch die Dating-App Tinder. Links wischen heißt: nein, danke.

Rechts wischen heißt: Interesse. Burger wischt, bis jemand seines erwidert: Er hat ein Match. Doch das wird sich als Fake-Profil entpuppen. Burger heißt eigentlich anders. Weil er nicht will, dass sein Umfeld von dem Vorfall erfährt, trägt er in diesem Text ein Pseudonym.

Anfangs ahnt der Student nichts. Er flirtet. Die letzten Wochen war er auf sein Studium konzentriert. Burger steht vor dem Drittversuch einer Klausur. Wenn er nicht besteht, fliegt er. Der Flirt mit der Frau von Tinder wäre ein willkommener Lichtblick. Und es läuft gut. Nach zwei Tagen wechseln sie zu Telegram. Es wird privater.

Sie sexten, schreiben sich sexuelle Nachrichten. Irgendwann schickt das Fake-Profil Nacktbilder. Auch Burger soll etwas von sich zeigen. Er zögert. Dann schickt er ein Bild von seinem Penis, ein Dick-Pic. „Ich bin immer vorsichtig eigentlich, ich weiß nicht, was mit mir passiert ist“, sagt er. Die Profile mit den Bildern der Frau hätten echt gewirkt. Burgers Geschichte lässt sich nicht im Detail überprüfen. Er stützt sie mit Screenshots von Chats.

Burgers Gegenüber reicht das eine Penis-Bild nicht. Er soll mehr schicken, diesmal mit Gesicht. „In dem Moment wusste ich, dass es ein Fake ist“, erzählt er. Er blockiert die Nummer. „Ich hatte gehofft, das reicht aus.“

Digitale sexualisierte Gewalt

Was Burger passiert ist, nennt sich „Sextortion“. Dabei bringen Be­trü­ge­r*in­nen die Betroffenen dazu, Nacktbilder zu schicken. Sobald sie die Nacktbilder haben, drohen sie, die Bilder an Familie oder Freun­d*in­nen zu schicken. Wollen die Betroffenen das verhindern, sollen sie Geld schicken oder andere Dienste leisten.

Kerstin Demuth, Expertin für digitale Gewalt vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) ordnet Sextortion zwischen Cyberkriminalität und digitaler sexualisierter Gewalt ein.

„Es hat Elemente von Gewalt für die Betroffenen, genauso ist es eine kriminelle Erpressung.“ Die Abgrenzung sei schwierig. „Wo Beziehung oder Vertrauensverhältnis ausgenutzt wird, um mit der Erpressung eine Beziehung zu erzwingen oder Sex, dann sind das eindeutig Gewaltdynamiken“, sagt Demuth. Auch wenn Erwachsene Minderjährige mit Sextortion erpressten, sei das ein eindeutiger Übergriff.

Das ist keine Seltenheit. Von Oktober 2021 bis März 2023 zählte das FBI in den USA etwa 12.600 minderjährige Betroffene. Die polizeiliche Kriminalstatistik 2023 zählt für Deutschland 3.082 Fälle von „Erpressung auf sexueller Grundlage mit dem Tatmittel Internet“. Nicht bei jedem Fall handele es sich dabei jedoch um Sextortion, schreibt das Bundeskriminalamt auf taz-Anfrage. Genauere Zahlen habe man nicht.

„Personen reagieren unterschiedlich auf digitale Gewalt­erfahrungen“, erklärt Kerstin Demuth. Es könne aber enorm belasten. „Die Leute wissen, was einmal online ist, lässt sich schwer löschen.“ Digitale Gewalt könne zu Ängsten, Schlafstörungen bis hin zu Suizidversuchen führen. Die Daten des FBI zählen 20 Suizide in Verbindung mit Sextortion.

So weit kam es bei Burger nicht. Doch auch ihn traf die Erfahrung hart. Burger erzählt seine Geschichte so weiter: Kurz nachdem er ein schlechtes Gefühl bekommen und die Nummer von seinem Flirt auf Telegram blockiert hatte, erreichten ihn Dutzende Nachrichten in anderen Apps. Er solle 200 Euro bezahlen, sonst würde das Penis-Bild bei Familie und Freun­d*in­nen landen.

Weil auf dem Bild Burgers Gesicht nicht zu sehen ist, hat der Erpresser eine Collage erstellt: in der Mitte das Bild von Burgers Penis, daneben Bilder von seinem Gesicht aus den sozialen Medien.

Daneben steht, Burger habe eine Achtjährige belästigt. Für die Vorwürfe des Erpressers gegen Burger gibt es keine Belege. „Ich hatte Angst und habe mich überwältigt gefühlt“, sagt Burger. Mehrere Nächte habe er nicht schlafen können und auch nicht mehr für seine Klausur lernen können.

Burger versucht, Zeit zu gewinnen. Dienstag würde er bezahlen, verspricht er dem Erpresser am Sonntagabend. Die folgende Nacht verbringt er in einem Reddit-Forum für Betroffene von Sextortion. Dort bekommt er Tipps: Auf keinen Fall Geld schicken, sonst würden die Erpressenden nur ihre Chance wittern und mehr fordern. Lieber ignorieren. Die meisten drohten nur und veröffentlichten nicht. Täglich berichten Nut­ze­r*in­nen auf Reddit von Sextortion. Viele sind verzweifelt, manche teilen mit, dass sie unter Suizidgedanken leiden.

Die Community beruhigt und gibt Tipps. Unter vielen Posts geben die Ur­he­be­r*in­nen danach an, gestärkt zu sein, die Erpressung durchzustehen. „Reddit hat mir sehr geholfen“, sagt Burger.

Bei der Recherche stößt er außerdem auf Seiten wie stopncii.org oder TakeItDown. Die Dienste sollen verhindern, dass dort gemeldete Bilder hochgeladen werden. Sie generieren eine Art digitalen Fingerabdruck des Bildes.

Die Social-Media-Plattformen können damit das jeweilige Bild erkennen und einen Upload blockieren oder bereits hochgeladene Bilder löschen. Kerstin Demuth vom BFF hält die Seiten für seriös. Sie rät Betroffenen, bei Bedarf Beratungsstellen für sexualisierte Gewalt zu kontaktieren.

Burger entscheidet sich, nicht zu zahlen und den Erpresser zu blockieren. Doch der lässt nicht locker. Mit wechselnden Nummern schreibt er Burger. Schickt vermeintliche Screenshots, wie er die Bilder an Freun­d*in­nen oder Familienmitglieder von Burger sendet. Doch ein Freund, der eins bekommen haben soll, weiß von nichts. Burger schließt daraus, der Erpresser blufft.

Er ignoriert ihn weiter. Verlangte der Erpresser von Burger anfangs noch 200 Euro, werden es auf einmal 100, irgendwann noch 40. „Da wusste ich, dass ich gewonnen hatte“, sagt Burger. „Ein bisschen Angst habe ich aber noch.“

Seine Profile in den sozialen Medien und Messengern hält er deswegen deaktiviert. Auf eine gemeinsame Studiengruppe hat er deswegen keinen Zugriff mehr.

Ob er jemals wieder ein Dick-Pic verschicken würde? „Das wird mir nie wieder passieren!“, schwört er sich und lacht kurz. „Erst mal nicht – und wenn, dann nur an eine Person, die ich vorher schon persönlich getroffen habe.“ Auch auf Onlinedating habe er erst mal keine Lust mehr.

Im Reddit Forum zu Sextortion gibt es eine Umfrage unter den Mitgliedern, warum sie auf die Täuschung reingefallen sind. Sie ist zwar unwissenschaftlich, gibt aber einen Einblick in die Selbsteinschätzung der Betroffenen. So geben von 118 Befragten 49 an, sie seien einfach geil gewesen. 29 sahen Einsamkeit und 14 eine Pornosucht als Grund. Und für 13 war das Versenden der Bilder „normales Onlinedating“.

Sexistische Strukturen

Sextortion ist einer der wenigen Bereiche sexualisierter Gewalt, von dem Männer besonders betroffen zu sein scheinen. In ihrem Jahresbericht 2023 schreibt die „Revenge Porn Helpline“ aus dem Vereinigten Königreich, dass in 93 Prozent ihrer Fälle die Betroffenen männlich seien.

In einer Studie zu Jugendlichen in den USA, die 2018 in ­einer Fachzeitschrift für sexuel­len Missbrauch erschienen ist, gaben 5,8 Prozent der befragten männlichen und 4,1 Prozent der weiblichen Jugendlichen an, Sextortion erlebt zu haben. Non-binäre Jugendliche behandelte die Untersuchung nicht.

Kerstin Demuth vom BFF weist darauf hin, dass es bei sexualisierter Gewalt immer hohe Dunkelziffern gebe. Sie fordert deswegen mehr Dunkelfeldforschung, sowohl zu Sextortion als auch zu digitaler sexualisierter Gewalt generell. „Ich mutmaße außerdem, dass Frauen eher betroffen sind, wenn die Erpressung im Rahmen von Beziehungen stattfindet“, sagt sie. „Sexistische Strukturen und Denkweisen setzen sich im Digitalen fort.“

Demuth fordert von den Social-Media-Plattformen, dass sie konsequent Inhalte herunternehmen, die nicht einvernehmlich veröffentlicht wurden. Die Plattformen verdienen ihr Geld durch Werbung, die sie zwischen die Inhalte schalten. „Es darf nicht sein, dass Plattformen Geld auch mit gewaltvollen Inhalten gewinnen“, sagt Demuth.

Auch die Rechtslage müsse sich ändern. Aktuell sei die in Bezug auf digitale sexualisierte Gewalt ein Flickenteppich. Bayern hat etwa kürzlich über eine Bundesratsinitiative eingebracht, Deepfakes strafbar zu machen. Das reiche nicht, so Demuth: „Digitale sexualisierte Gewalt muss in allen Formen systematisch in das Sexualstrafrecht eingebunden werden.“ Zudem gehörten sexualisierte Gewalt und Übergriffe gesellschaftlich geächtet. „Das umzusetzen, muss auch politische Priorität sein“, sagt Demuth.

In Burgers Fall steckt indes eine weitere Form der digitalen Gewalt. Wer ist die Frau, mit deren Bilder Burger getäuscht wurde?

Entweder sie ist eine Komplizin oder, was wahrscheinlicher scheint, der Erpresser nutzt ihre Bilder – nicht einvernehmlich –, um damit Menschen wie Burger zu täuschen. Burger scheint aus der Sache herausgekommen zu sein. Die Bilder der Frau werden vielleicht schon wieder für die nächste Täuschung verwendet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Wer ist so blöd Nacktbilder von sich zu versenden.



    Die Sicherheit der Messinger-Dienste ist abenteuerlich schlecht. Die Ende-zu-Ende-Verschlüsseling bringt nur was, wenn ich dem Absender trauen kann. Ansonsten kann ich die Bilder gleich am Alex verteilen.

    Die Generation, die sich so selbstsicher als Digital Natives bezeichnet ist total unbedarft, was Sciherheit im Netz betrifft. Sie sollten sich besser als Digital "Naiv" bezeichnen.

    Die Grundlelegende weisheit bei allen kostenlosen Service-Angeboten im Netz gilt, Du bist die Ware, nicht der Kunde!

  • Unabhängig davon, dass ich solche Bilder nicht versenden würde, wäre ich gegen die Erpressungsversuche als Saunagänger wohl imun. Freunde und Familie würden also im worst case ein Nacktbild sehen, das würde die ebenso kalt lassen, wie mich andersherum, gibt da nix spannendes zu sehen.